Stalins Krieg gegen die Ukraine
„Holodomor“ – dieses Wort tauchte in den letzten Wochen in Nachrichten und Berichten über den Krieg Russlands gegen die Ukarine auf. Die Blockade von Getreidelieferungen und die Aneignung ukrainischer Getreidevorräte durch die russischen Besatzer rufen Erinnerungen wach an den „Holodomor“, die Hungerepidemien der 1930er Jahre.
Dieser Teil der ukrainischen Geschichte ist vor mehr als 30 Jahren schon einmal beschrieben worden von dem amerikanischen Historiker und Politologen Robert Conquest, der mit „Der große Terror“ (1968) und „Die Ernte des Todes“ (1986) zwei Standardwerke über die Verbrechen der Stalin-Ära geschrieben hat. Inzwischen sind ukrainische Archive zugänglich geworden. Das Bild des Hungerdramas ist damit differenzierter geworden. Deshalb unternimmt die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum eine erneute Beschreibung der Zeit, in der die russischen Bolschewiki den Hunger als Instrument nutzten, ukrainische Identität unkenntlich zu machen.
Es liest sich bedrückend, dieses über 500 Seiten starke Buch. Beschrieben wird die Kollektivierung der Landwirtschaft auf Anordnung der kommunistischen Führung in Moskau. Gewachsene Strukturen in der ukrainischen Landwirtschaft, die auf Selbstorganisation und Teilhabe basierten, wurden zerrieben und durch autoritäre Strukturen ersetzt. Beschrieben wird aber auch der ukrainische Nationalismus dieser Jahre, den die Boschewiki als Infragestellung ihres Machtanspruches und Bedrohung ihrer ungefestigten Herrschaft ansahen. Im Hintergrund wird dabei eine Konkurrenz zwischen Russen und den sogenannten „Kleinrussen“ und „Weißrussen“ sichtbar, die nur mühsam durch die Rhetorik der „Brüdervölker“ überdeckt wird.
Zurück zur Kollektivierung der Landwirtschaft: mehrere schlechte Erntejahre und die Verwerfungen infolge der Zwangskollektivierung führen zu Nahrungsmittelknappheit in Russland wie in der Ukraine. Stalin legt der Ukraine ein Abgabesoll auf, das das Land nicht erfüllen kann. Die Bolschewiki organisieren Getreideeintreibungen in der Ukraine, die sich nicht nur auf Getreidevorräte beziehen, sondern auch das Saatgetreide und das aktuelle Brotgetreide betrifft. In der Folge entsteht eine Hungersnot, der mindestens 4,5 Millionen Menschen zum Opfer fallen.
Anne Applebaum kommt in ihrer detailreichen und auf vielen Zeitzeugenberichten beruhenden Analyse zu dem Ergebnis, dass die kommunistische Führung unter Stalin der Hungersnot nicht nur nichts entgegensetzte, sondern sie systematisch verschärft hat. Die Bauern in der Ukraine wurden zum Sündenbock für die Misswirtschaft Sowjetrusslands stilisiert. Das dafür benutzte Programmwort hieß »Entkulakisierung«,
„ein hässliches bürokratisches Wort als Kurzform für die »Vernichtung der Kulaken als Klasse«. Aber wer war ein Kulak? … Obwohl er seit dem Sturz Nikolaus II. häufig in den Zeitungen, von Agitatoren und Behörden aller Art gebraucht wurde, war er stets vage und unklar definiert geblieben. In Jekaterina Olizkajas Erinnerungen an die Russische Revolution heißt es über die Zeit des Bürgerkriegs:
Jeder, der Unzufriedenheit äußerte, war ein Kulak. Bauernfamilien, die nie Arbeiter beschäftigt hatten, wurden als Kulaken eingestuft. Ein Haushalt mit zwei Kühen, mit einer Kuh und einem Kalb oder mit zwei Pferden galt als kulakisch. Dörfer, die keinen Getreideüberschuss abgaben oder Kulaken entlarven wollten, wurden bei Strafexpeditionen geplündert. Also hielten die Bauen Treffen ab, um zu beschließen, wer ein Kulak sei. Das Ganze erstaunte mich, aber die Bauern erklärten: »Man hat uns befohlen, Kulaken zu entlarven, was sollen wir also tun? … Um die Kinder zu schützen, wählten sie meist kinderlose Junggesellen.«“ (S. 162f).
Gezielte Aushöhlung des Rechtssystems, Schaffung einer Atmosphäre der Angst und des Denunziantentums und das Schüren von Hass gegen die ukrainische Sprache und Kultur begleiteten die systematische Plünderung des Landes. Der „Holodomor“ – die Tötung durch Hunger – trägt die Züge eines gezielten Genozids.
Am Ende des Holodomors war die Ukraine nicht mehr das selbe Land. Deportationen, Schauprozesse, Aushungern ganzer Landstriche, Austausch der politischen, wirtschaftlichen und kommunalen Verantwortungsträger – mit diesen Mitteln erreichte Stalin, dass es nach 1933 keine erkennbare ukrainische Nationalbewegung mehr gab und das Land widerstandslos in die UdSSR eingegliedert werden konnte.
Wie gesagt: das Buch liest sich bedrückend. Und ich habe es oft beiseite gelegt, weil ich mehr Seiten am Stück nicht ertragen konnte. Dennoch ist es ein wichtiges Buch, um den Krieg in der Ukraine zu verstehen – diesen Krieg, der ja nüchtern betrachtet so irrational ist. Es ist der Krieg des postgenozidalen Russlands gegen eine ukrainische Gesellschaft, in der tief sitzende anti-russische Reflexe wirken.
Silvia Salminen bin ich für die Empfehlung und das Ausleihen dieses Buches sehr dankbar. Es war mir wichtig, dieses Kapitel russischer und ukrainischer Geschichte gelesen zu haben.
Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi
Anne Applebaum: Roter Hunger
Siedler Verlag München
ISBN 978-3-8275-0052-6