Im Februar 1522 kommt Martin Luther mit seiner Übersetzung des Neuen Testamentes zum Schluss: als er Anfang März die Wartburg verlässt und nach Wittenberg zurückkehrt, hat er das fertige Manuskript seiner Übersetzung in der Tasche – fertiggestellt in 11 Wochen!*
Bei der Arbeit am Neuen Testament hatte er sich immer wieder in die Menschen hineingedacht, für die er seine Übersetzung schrieb: So sucht er nach z.B. eindrücklichen Formulierungen, die im Gedächtnis bleiben, denn er schreibt nicht nur für „Leser“, sondern auch für „Hörer“. Wer kann schon lesen in dieser Zeit?! Luther stellt sich vor, dass die Bibel vom Hausvater oder der Mutter vorgelesen wird – für die Knechte auf dem Hof und die Mägde im Haus und für die Kinder auf dem Schoß. Es macht eine Stärke von Luthers Bibelübersetzung aus, dass sie so stark auf den Klang der Worte und die Einprägsamkeit der Formulierungen achtet. Luther denkt sich hinein in Menschen, die wenig an Vorwissen mitbringen, wenn sie die Bibel lesen und hören.
Dabei fällt Luther etwas auf: Wie wirkt das eigentlich, wenn am Anfang des Neuen Testamentes vier Evangelien stehen und die Briefe des Paulus und des Petrus kommen erst im hinteren Teil?! „Da spricht man: `Nun, es sind vier Evangelien.´ Und es ist dazu gekommen, dass man nicht weiß, was St. Paulus und Petrus in ihren Episteln (Briefen) sagen. Da wird ihre Lehre betrachtet, als seien das Zusätze zur Lehre der Evangelien.“ So entsteht durch Umfang und Anordnung der biblischen Bücher ein Ungleichgewicht, das die so wichtigen Briefe in den Hintergrund treten lässt.
Und noch etwas bereitet Luther Sorgen: Welchen Stellenwert hat das eigentlich, was Menschen im Neuen Testament lesen? Wird das als befreiende Botschaft wahrgenommen oder irgendwie als ein neues Gesetz? „Da gibt es noch eine ärgere Angewohnheit, dass man die Evangelien und Epistel achtet gleich wie Gesetzbücher, darinnen man lehren soll was wir tun sollen und die Werke Christi nichts anderes als Exempel für uns darstellen sollen.“
Und so entsteht neben der Übersetzung des neuen Testamentes noch ein kleiner Aufsatz – auch den hat Luther in der Tasche, als er nach Wittenberg reist. Der erscheint im März 1522 als Vorwort zur Postille: “Ein klein Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll“.
Es gibt doch eigentlich nur ein Evangelium, schreibt Luther. Und dieses eine Evangelium wird von vier Aposteln erzählt. Und auch die Briefe von Paulus und Petrus und die Apostelgeschichte – sie alle erzählen doch immer von dem einen Evangelium, „dass Christus Gottes Sohn ist, für uns Mensch geworden ist, gestorben und auferstanden ist und zum Herrn über alle Dinge eingesetzt worden ist.“ Das ist das Evangelien, das in den verschiedenen Schriften des Neuen Testamentes doch immer wieder entfaltet wird.
Deshalb – so schreibt Luther – „mach aus Christus keinen Mose, der nicht mehr tut als lehren und Beispiel geben, wie andere Heilige das auch tun.“
Nicht ein Gesetzbuch hast Du da in der Hand, sondern ein Geschenk und eine Gabe für Dein Leben. Zuallererst ist Christus der, der Deinem Leben die frohmachende Freiheit des Glaubens schenkt. Und erst in zweiter Linie ist er dann auch Vorbild für ein Handeln im Licht dieses Glaubens.
Der Lutherforscher Martin Brecht schreibt:
„Dieser »kleine Unterricht« ist mehr als eine übliche Vorrede. Die Mitteilung Christi im mündlichen Wort wird zum Zentralstück der Religion. Christus ist Geschenk und Gabe, die Werke sind dazu die Entsprechung und Folge. … Die Theologie oder Lehre war Ausdrucksmittel des lebendigen Christusglaubens, der aus der gottesdienstlichen Form der Predigt erwuchs. Darin liegt die exemplarische Bedeutung der Postille.“
(Brecht, Luther II, S. 26)
Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi
* Das gesamte Neue Testament in nur 11 Wochen übersetzen – in einer modernen Ausgabe des griechischen Neuen Testamentes entspricht das etwa 12 Seiten pro Tag. Was ich beeindruckend finde! Zur Zeit wird eine neue finnische Bibelübersetzung erarbeitet und ich hatte im Dezember zufällig die Gelegenheit, einen der Übersetzer zu treffen. Er erzählte mir, wie er zur Vorbereitung auf die Bibelübersetzung jeden Tag ein Kapitel (zwei bis drei Seiten) griechisches NT fortlaufend liest – um ein frisches Gefühl für Wortfelder und die Verwendung bei den verschiedenen neudtestamentlichen Autoren zu haben. Ein bis zwei Kapitel dürften dann bei der Übersetzungsarbeit ein realistisches Maß sein.
Danke, lieber Herr Pfarrer Beutel. Das tat gut, diese Gedanken zu lesen. Mir ist das oft begegnet, dass gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften gestritten wird mit dem Argument: das ist schon im Neuen Testament, dem „Grundgesetz der Christen“, verboten. Das ist mir wichtig, dass Luther das Neue Testament nicht als Gesetzbuch verstanden hat, sondern insgesamt als Evangelium.
Ihre H. Hanstein