20 Jahre ist es alt, das Evangelische Gottesdienstbuch links im Bild. Und immer noch bietet es einerseits eine verlässliche Grundstruktur für unsere Gottesdienste und andererseits eine Fülle von Anregungen, die wir noch längst nicht ausgeschöpft haben.

Nun ist eine überarbeitete Ausgabe herausgekommen (rechts im Bild) und ganz sicher: sie wird unsere Gottesdienste weiter bereichern!
Ich möchte ein wenig erzählen von der Bedeutung, die das Gottesdienstbuch für die evangelischen Kirchen hat. Und davon, was es mir bedeutet. Dazu blende ich zunächst zurück in die 1980er Jahre:
- Auf den Kirchentagen entstehen neue, schöne Formen für Gottesdienste, für Abendmahlsfeiern, für Familiengottesdienste, aber auch für Gottesdienste in kleinen Gemeinden, bei denen nur wenige Menschen zum Gottesdienst kommen.
- Spirituelle Aufbrüche wie in der Gemeinschaft von Taizé kommen in den Gemeinden an und eröffnen neue Zugänge zu einer lebendigen Liturgie.
- Themen wie ein achtsamer Umgang mit den begrenzten Ressourcen unserer Erde und die Wahrnehmung von sogenannten „Nutztieren“ als Mitgeschöpfen finden Widerhall in Gemeinden, werden theologisch durchdacht und in Gebete und Schuldbekenntnisse aufgenommen.
- Die Friedensbewegung in beiden Teilen Deutschlands entdeckt mit dem Politischen Nachtgebet und den Friedensgebeten Möglichkeiten, die Angst der Nachrüstungszeit zu thematisieren und vor Gott auszusprechen.
- Aus der Ökumene kommen Lieder in Deutschland an, werden teilweise übersetzt, teilweise aber auch in Sprachen gesungen, von denen vorher nur Experten gehört hatten.
- Neue Glaubensbekenntnisse werden formuliert und manche davon haben eine solche Resonanz, dass Gemeinden sie sich zu eigen machen und im Gottesdienst sprechen.
Eine bunte, kreative Gottesdienstkultur entsteht – und eine Gegenbewegung dazu entsteht auch: Menschen, die sich darum sorgen, dass vertraute und lieb gewordene Gottesdienstformen verloren gehen.
Diese Gegenbewegung greift auf die alten „Agenden“ zurück, also die dicken Bücher auf den Altären, in denen detailliert vorgeschrieben ist, was im Gottesdienst wann zu geschehen hat. Schade nur, dass diese Bücher schon damals sehr alt waren und kaum als Ausdruck eines lebendigen Glaubens taugten.
Es entsteht also eine Polarisierung: während die einen „freestylen“ werden die anderen immer „konservativer“. In Pfarrkonventen ist diese Polarisierung deutlich zu spüren. Zunächst wirkt das wie ein Generationenkonflikt: Die Alten „mit dicken Büchern unter müden Achseln“ – die Jungen mit hektisch hektographierten Gottesdienstzetteln wedelnd. Später sammeln sich dies- und jenseits der trennenden Linien durchaus altersgemischte Gruppen argumentationsstarker Protestanten.
Keine gute Situation! Zumal in einer Gottesdienstlandschaft, die ohnehin zersplittert war:
- Wer aus Baden-Württemberg kam, hatte dort den schlichten „oberdeutschen Predigtgottesdienst“ schätzen und lieben gelernt. Bei einem Umzug, sagen wir nach München, begegnete er dort einem „lutherischen Messgottesdienst“, der völlig fremd anmutete mit seinen stolzen liturgischen Gesängen. Das war sozusagen „zum katholisch werden“.
- Wer dagegen aus dem Rheinland oder Friesland stammte, hatte seine prägenden Gottesdiensterfahrungen eher in einer reformierten Gemeinde gemacht und fühlte sich nach einem Umzug, sagen wir nach Hannover, von lutherischer Liturgie befremdet.
In dieser Zeit beginnt die Arbeit am Evangelischen Gottesdienstbuch. Ich habe in dieser Zeit studiert – in Berlin und dann in Rostock. Und die Diskussionen im liturgischen Seminar haben mich begeistert. Zunächst war für mich durchaus noch offen, ob meine Zukunft in der Gemeindearbeit oder an der Universität sein würde. Die Liebe zur Liturgie, die da entstanden ist, hat mich Pfarrer werden lassen.
Langsam, langsam, langsam entwickelte sich aus der Zerrissenheit der verschiedenen liturgischen Traditionen etwas Gemeinsames: sowohl der lutherische Abendmahlsgottesdienst, der sich an der reichen Tradition der Messe orientierte, als auch der in Süddeutschland gepflegte Predigtgottesdienst fanden ihren Platz als „Grundform 1“ und „Grundform 2“. Und wo sie in den Arbeitspapieren der liturgischen Kommissionen nun schon mal so friedlich nebeneinander standen, wurden sie durchlässig füreinander, aufnahmefähig für Elemente aus der jeweils anderen Form.
Zudem wurden die Gottesdienstformen weicher, gestaltbarer. Der Blick öffnete sich zum Beispiel dafür, dass ein Kyrie-Gesang aus Taizé durchaus auch in einen liturgisch traditionellen Gottesdienst passt und in einem festlich gestimmten Weihnachtsgottesdienst ein ausführlicheres Gloria in excelsis deo gesungen werden kann als das sehr knappe der All-Sonntags-Liturgie.
Meine erste Pfarrstelle habe ich in einer Zeit übernommen, in der die Konturen des neuen Gottesdienstbuches schon erkennbar waren und vieles zur Ausgestaltung dieser Konturen ausprobiert wurde. Der starke Eindruck dieser Zeit war: „Die Liturgie beginnt eine Geschichte zu erzählen! Wenn Du die einzelnen Teile der Liturgie für sich sprechen lässt, dann wird im Gottesdienst die Heilsgeschichte erzählt – Sonntag für Sonntag mit immer neuen Akzentuierungen durch das Kirchenjahr.“ Ein unerschöpflicher Reichtum, der mir da nach und nach vor Augen kam und sich zu einem großartigen Mosaik zusammenfügte!
Mit dem „Vorentwurf zur erneuerten Agende“ habe ich gelernt, Gottesdienste zu gestalten. Wenn ich mir heute Gottesdienste ansehe, die ich damals vorbereitet habe, dann fällt mir eines auf: Ich habe immer wieder versucht zu erklären, was wir da feiern – also z.B. die Hinführungen zu Kyrie und Gloria so zu gestalten, dass deutlich wird, warum wir nun in diesem Gottesdienst gerade das Kyrie singen und dann das Gloria. Ich weiß nicht, ob das nicht auch manchmal nervig für die Gemeinde war, wenn die Liturgie zur „Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln“ wurde. „Lass die einzelnen Teile der Liturgie für sich sprechen – sie erzählen dem eine Geschichte, der ihnen lauscht.“ – Es hat gedauert, bis mir das wirklich zu einer Einsicht geworden ist.
Im Jahr 2000 erschien dann – endlich – das Evangelische Gottesdienstbuch. Ein ausgereiftes Werk – immerhin war 25 Jahre daran gearbeitet worden! Und ein Werk, an dem meine Liebe zur Liturgie immer neue Nahrung gefunden hat. Bis nun – zwanzig Jahre später – eine Überarbeitung herausgekommen ist.
Eine behutsame Überarbeitung. Und ein vorläufiges Werk. Ein Buch, dass mir in der Einleitung sagt: „Ich werde Dich die nächsten sieben oder acht Jahre zuverlässig begleiten – bis die große Überarbeitung fertig sein wird. Zu viel ändert sich gerade, das braucht noch etwas Zeit zum Reifen.“
Am 1. Advent 2018 ist die neue Ordnung der Lesungen und Predigttexte in Kraft getreten. Das war der Anlass, das Gottesdienstbuch zu überarbeiten. Manche liturgischen Einsichten, die im Jahr 2000 noch ziemlich fremd anmuteten, sind inzwischen so weit geklärt, dass sie in das Evangelische Gottesdienstbuch 2020 übernommen werden konnten.
Aber vieles ist noch im Fluss:
- Gerade wird ein Gesangbuch erarbeitet, das „in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts neu erscheinen soll“, wie es mit sympathischer Zurückhaltung im Vorwort des Gottesdienstbuches heißt.
- Aus der Ökumene kommen immer wieder wertvolle Anregungen.
- Unsere Sprache hat sich verändert, manche Formulierungen, die uns vor 20 Jahren noch glatt über die Lippen gingen, sind inzwischen problematisch geworden.
- Auf Kirchentagen und in Kommunitäten werden neue Gottesdienstformen entwickelt, die immer wieder deutlich machen, wie lebendig Liturgie ist.
- Und ja: manches kommt auch aus den Schatzkammern der liturgischen Tradition wieder zum Vorschein, wird in die Hand genommen, gedreht und gewendet und vom Staub der Jahrhunderte befreit – und beginnt neu zu glänzen!
Also: da steht noch eine richtig grundlegende Überarbeitung aus. Und auf die freue ich mich jetzt schon. Das Evangelische Gottesdienstbuch 2020 ist ein Vorgeschmack darauf – wir werden ihn auskosten!
Auf unserer Website gibt es eine Rubrik „A-Z der Liturgie“:
https://www.deutschegemeinde.fi/liturgie/
Diese Rubrik werden wir in den kommenden Monaten um den einen oder anderen Beitrag erweitern. In der Postille werden diese Beiträge dann veröffentlicht. Lasst Euch einladen, dort immer mal wieder nachzuschauen: Es ist ein Gang in eine Schatzkammer, in der sich gewiss nicht alles auf Anhieb erschließt, die aber eine Liebe zur Liturgie wecken kann. Und lasst Euch einladen, im Gottesdienst die Liturgie wahrzunehmen als ein kostbares und köstliches Gut! „Wo die einzelnen Teile der Liturgie für sich sprechen, erzählen sie dem eine Geschichte, der ihnen lauscht.“
p.s. „mit dicken Büchern unter müden Achseln“ ist ein Zitat aus einem Text von Herman van Veen, in dem Gott doch etwas befremdet ist von der Leblosigkeit, die er in einer Kirche antrifft. Es tut gut sich ab und an vorzustellen, Gott käme in unsere Kirche um mit uns zu feiern. Denn das tut er (oder sie) ja tatsächlich: Sonntag für Sonntag.
Wer ist HCB? Warum diese Anonymität?
Lieber Herr Keil,
das Kürzel HCB steht für Hans-Christian Beutel. Gemeint ist das eigentlich nicht als Anonymisierung. Wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Gemeinde schreiben unsere Beiträge in die Postille und die Einstellung in dem Programm, mit dem wir da arbeiten, setzt eben unser jeweiliges Namenskürzel dazu. Das lässt sich gewiss auch anders einstellen. Ich nehm diese Frage mal mit in die nächste Besprechung mit den Mitarbeitenden.
Mit herzlichen Grüßen
Hans-Christian Beutel