Dora zieht um. Die Hektik Berlins und das hohe Tempo ihres Arbeitslebens lässt sie hinter sich.
Dora zieht aus. Das Zusammenleben mit ihrem zum Corona-Apokalyptiker mutierten Freund und die Konflikte im Home Office hält sie nicht mehr aus.
„Abgesehen vom Ringen um die richtigen Gedanken waren sie einander schlicht im Weg. Wenn Dora ein Fenster schloss, hatte Robert gerade vorgehabt, ein weiteres zu öffnen. Wenn sie auf der Toilette saß, klopfte es an der Tür, und Roberts Stimme frage, wie lange es noch dauere. Während sie gerade seitenweise Claims schreiben musste oder nach einer Funkspot-Mechanik suchte, die für eine lang laufende Kampagne geeignet war und am Besten noch jede Menge Award-Potential mitbringen sollte, verfiel er auf die Idee, zwanzig Zentimeter neben ihrem Ellenbogen die Spülmaschine auszuräumen. Robert stolperte über Jochen und trat auf Doras Unterlagen, die sie aus Platzmangel auf dem Boden verteilte. Wollte sie an den Kühlschrank, stand er mit Sicherheit gerade davor, machte sie sich einen Kaffee, stellte er sich daneben und wartete demonstrativ darauf, dass sie mit ihren Verrichtungen fertig wurde. Wenn sie auf dem Balkon eine Zigarette rauchte, rief er von drinnen, man könne den Rauch in allen Zimmern riechen. Beim Schreiben seiner Kolumnen lief er im Flur auf und ab und redete halblaut vor sich hin. Als Dora ihn bat, damit aufzuhören, behauptete er, anders nicht produktiv sein zu können.“
Dora zieht ein. Sie hat sich ein heruntergekommenes Haus auf dem Land gekauft. Home Office geht auch von hier aus. Was Dorfleben in der brandenburgischen Provinz bedeutet, hat sie sich nicht klar gemacht:
„»Ist das dein Hund?«
Erschrocken schaut sie sich um. Die Stimme ist männlich, tief und kräftig, und sie kommt aus dem Nichts.
»Hey! Ob das dein Scheißköter ist!«
Endlich kann sie den Mann orten. Er steht hinter der hohen Mauer aus Hohlbausteinen, die die Flurstücke trennt. Ein runder, kahl geschorener Kopf guckt über den Mauerrand. Wie eine Kugel scheint er auf der Kante zu balancieren. … Das Alter des Mannes ist schwer zu schätzen. Vielleicht Mitte vierzig und damit zehn Jahre älter als sie.
»Gote«, sagt der Nachbar.
Irritiert schaut Dora zur Straße, ob sich irgendetwas nähert, das diese Bezeichnung verdient.
»Gote«, wiederholt der Nachbar nachdrücklich, als wäre Dora schwerhörig oder jedenfalls schwer von Begriff. Anscheinend soll das ein Name sein, auch wenn nicht klar ist, ob es sich um Vor- oder Nachnamen handelt.
»Westgote oder Ostgote?« fragt Dora.
Jetzt ist es wieder am Nachbarn, irritiert zu schauen. Ein Zeigefinger erscheint über der Mauer und deutet auf seine rechte Schläfe.
»Gote«, sagt er noch einmal. »Wie Gottfried.«
Ein bisschen fühlt sich das an wie die Kommunikation zwischen Robinson und Freitag, nur ohne zu wissen, wer Robinson und wer Freitag ist. Auch Dora hebt einen Zeigefinger und deutet auf sich selbst.
»Dora«, sagt sie. »Wie Dorf-Randlage.«
Gote ist der Dorf-Nazi. Was etwas heißen will in einem Dorf, in dem ein Viertel der Menschen AfD wählt. Wohin ist die liberal denkende und grün wählende Dora geraten! Doch Dora hat, was selten ist in unserer Zeit: eine gesunde Neugier auf Menschen und ihre Lebensgeschichten. Nach und nach lernt Dora die Dorfbewohner kennen – zum Beispiel Sadie, eine alleinerziehende Mutter:
„Dann erzählt sie ihre Geschichte. Beim Reden streicht sie sich ständig über die kurzen Haare oder zupft an den Lippenpiercings. Dora schenkt Kaffee nach. Es beginnt sie zu interessieren, was Sadie erzählt. …
Dora fragt, ob sie richtig verstanden habe, dass die Kinder jede Nacht allein zu Hause sind.
Sadie fährt hoch und sagt, ja, klar, der Job in der Gießerei sei die einzige Möglichkeit, überhaupt in Vollzeit zu arbeiten. Nur durch die Nachtschicht kann sie tagsüber für die Kinder da sein. …
Dora versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, jede Nacht durchzuarbeiten und sich tagsüber um Haushalt und Kinder zu kümmern. Wie das Leben nur noch aus Übermüdung und Sorgen bestünde, Sorgen um die Kinder, Sorgen um die Finanzen, Sorgen darum, wie lange sie noch durchhalten kann.
Aber es gelingt nicht. Was Sadie erzählt, ist für Dora unvorstellbar. …
Dora empfindet Ehrfurcht vor der jungen Frau. Ein altmodisches Gefühl, das sie seit Langem nicht mehr hatte und trotzdem sofort erkennt. Außerdem spürt sie Verwunderung. Als blickte sie auf die geheime Unterseite der Nation.“
(Leseprobe)
Mit „Über Menschen“ ist Juli Zeh ein eindrückliches Buch gelungen. Sprachlich packend und voller Lust am Wortspiel, am Doppelbödigem, an Situationskomik, aber auch an Situationstragik. Hoch emotionale Passagen wechseln mit kühlen Analysen, so entsteht ein vielschichtiges und differenziertes Gesellschaftsbild. Gerade als ich es mir so richtig gemütlich gemacht hatte im Buch, wechselte die Tonlage, wurde das Buch zur Zumutung, zur Herausforderung, zur Infragestellung. Juli Zeh beschreibt wankende Weltsichten und damit hat ihr Roman durchaus auch seine anstrengenden Seiten. Aus der Hand legen mochte ich das Buch dennoch nicht. Juli Zeh beschreibt Widersprüche, die sich nicht leicht auflösen lassen – aber, so ihr Credo: wir müssen nicht alle Widersprüche auflösen, es reicht schon, dass wir Widersprüche schlicht aushalten, um menschlich miteinander umzugehen.
Ein Buch zur rechten Zeit!
Juli Zeh: Über Menschen
Roman, 416 Seiten
Luchterhand Verlag, München 2021
Bestellnummer: 978-3-630-87667-2
Preis: 22,00 €
Danke für diese Buchvorstellung! Kommt auf meine Bücherbestellliste. – Da ist interessanterweise schon ein anderes Buch von Juli Zeh – Corpus Delicti, das mir empfohlen wurde.