Im November 1520 erschien Martin Luthers Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘.
Nein, das ist kein entspannter Mensch, der da im Sommer 1520 eine programmatische Schrift nach der anderen publiziert. Fast drei Jahre sind es mittlerweile, die Martin Luther auf eine Antwort auf seine Thesen wartet. Wenig ist passiert in der Zeit. Ja, in Leipzig hatte es eine Disputation mit Dr. Johannes Eck über Luthers Thesen gegeben. Aber die war nicht so rundum gut ausgegangen für Luther und seinen Kollegen Andreas Karlstadt. Über weite Strecken hatte der brillante Rhetoriker Eck die Diskussion dominiert. Mißmutig lässt Luther fortan den Punkt und das Leerzeichen weg, wenn er über „Dr. Eck“ schreibt.
Immer polemischer werden die Texte, die Luther im Sommer 1520 schreibt. Nein, entspannt ist er wirklich nicht. Dabei hat er doch gerade die entscheidende Entdeckung seines Lebens gemacht: „Nichts, wirklich nichts erreichst Du mit all Deinem Bemühen darum, gut zu sein. Von Gott her gesehen sind alle Deine Gut–Taten ein würdeloses Betteln um Anerkennung. Wenn Du Dir die Freiheit nicht schenken lässt, erreicht sie Dich nicht!“ Das ist die entscheidende Erkenntnis der letzten Monate gewesen! Damit sollte der Mann doch nun endlich mal durchatmen können! Aber der entspannt sich nicht.
Als wäre er noch der unsichere Novize im Erfurter Augustinerkloster klammert sich Luther an die festen Gebetszeiten und vorgeschriebenen Gebetsleistungen. Ängstlich listet er auf, welche Gebete er verpasst, wenn er gerade im Schreibrausch mal wieder nicht auf die Zeit geachtet hat. Da hat einer gerade das Grundprinzip der Freiheit begriffen und führt sklavisch Tagebuch über nicht erbrachte Gebetsleistungen! Die arbeitet er dann samstags ab „wobei ich den ganzen Tag weder aß noch trank und schwächte mich derart, dass ich nicht mehr schlafen konnte“, so schildert er das im Rückblick. Umsonst, er kommt nicht hinterher und schließlich hat ein ganzes Vierteljahr an ausstehenden Gebeten angesammelt! Es dauert lange, bis eine Erkenntnis aus dem Kopf ins Herz wandert und ihren Ausdruck auch in der persönlichen Spiritualität findet.
Dann aber — irgendwann im Spätsommer 1520 muss das gewesen sein – klappt Luther die Kladde zu: „Unser Herrgott hatte mich mit Gewalt von den kanonischen Gebetsstunden weggerissen im Jahr 1520, als ich schon viel schrieb„. Und jetzt beginnt das eigentliche Gebet, das Gespräch mit Gott, aus dem heraus Luthers schönste Schrift entsteht: „Von der Freiheit eines Christenmenschen.“ Nun ist das bei ihm im Herzen angekommen und nun kann er das weitersagen, was das für eine Freiheit ist, zu der Christus uns befreit hat. Welch ein Aufatmen ist auf jeder Seite dieser Schrift zu spüren!
Unpolemisch im Stil, präzise im Ausdruck, warmherzig im Ton und in einer Sprache, die fast schon Gesang ist — so schreibt Luther: melodisch klangvoll und in schwungvoller Gedankenführung; eine Sonate des Glaubens lange vor der Erfindung der Sonate. Ihr Thema umreißt er in einem Spannungsakkord:
„Damit wir gründlich erkennen mögen, was ein Christenmensch sei und wie es um die Freiheit bestellt sei, die ihm Christ erworben und geschenkt hat, will ich diese beiden Thesen aufstellen:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.„
Das klingt kraftvoll, aber auch ein bißchen unheimlich — so als sei ein Christenmensch eine gespaltene Persönlichkeit. Nicht gespalten, sagt Luther, aber es ist doch so, dass wir eine geistige und eine leibliche Natur haben. Und über diese beiden Seiten in uns redet er nun — und zwar ohne die eine Seite durch die andere abzuwerten. Jahrhundertelang hatte immer der geistliche Mensch mehr gegolten als der leibliche Mensch — Luther gelingt es, beide Seiten unseres Menschseins in ein energievolles Spannungsverhältnis zu setzen!
„Denk Dein Leben von seiner geistlichen Seite her,“ sagt Luther. Denk über Dein Leben von der Voraussetzung her, dass der geistliche Mensch in Dir frei ist. Meistens denken wir von unserem leiblichen Menschen her über unser Leben nach: Wir sind angewiesen auf andere Menschen und erleben, dass das Zusammenleben nicht gelingt. Wir sind angewiesen auf Gott und spüren, dass wir Gottes Heiligkeit nicht gerecht werden. Wen wundert’s, dass wir an uns selbst verzagen und entweder aufgeben oder uns in frommem Leistungsdenken überfordern?!
„Denk Dein Leben von der geistlichen Seite her,“ sagt Luther. Denk Dir ein Kind, das aufwachsen darf in der steten Erfahrung der unbedingten Liebe seiner Eltern. Dieses Kind entwickelt ein Verhältnis zu seiner Mitwelt, dessen Grundton das tief gegründete Vertrauen ist, zu dieser Mitwelt in ein positives Verhältnis zu treten und in dieser Welt zum Guten zu wirken. So begegnet Dir Gott in seinem Wort:
„Nun sind diese und alle Worte Gottes heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll. Darum: Wer ihm mit einem rechten Glauben anhängt, dessen Seele wird mit ihm vereinigt, so ganz und gar, dass alle Tugenden des Wortes auch der Seele eigen werden, und entsprechend durch den Glauben die Seele durch das Wort Gottes heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird.“
Steh aufrecht vor Gott! Du bist Gottes geliebtes Kind. Gottes Zuwendung musst Du Dir nicht mit guten Werken erobern. (Und tatsächlich: wie viele dieser guten Werke sind im Grunde nur eine Variante von „Guck mal, Papa, ich kann Handstand!“) Du darfst in jedem Moment deines Lebens darauf vertrauen, dass Gott Dich sieht: wie Eltern ihr Kind — mit unbedingter Liebe.
Die Spannung, die der Anfangsakkord aufgebaut hat, löst sich in der Erkenntnis, das der Glaube den Menschen zu einer freien Person macht, die ihren Mitmenschen aus genau dieser Freiheit heraus begegnet und ihnen das geben kann, was diese Mitmenschen brauchen. Seinem Nächsten dienen aus dieser freien Zuwendung heraus — welch eine Erfüllung ist das!