Impulse, Leselampe 2022-09-02

Glaube, Liebe, Hoffnung

von Hans–Christian Beutel

Bernhard Schlink, Die Enkelin

Der Buchhändler Kaspar Wettner sitzt am Schreibtisch seiner verstorbenen Frau. Ordnet zögerlich deren Nachlass. Findet Mappen, in denen Zeitungsartikel gesammelt sind: über Jugendliche, die in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR einer „Umerziehung“ ausgesetzt waren. Und über das politisch rechte Milieu in Ostdeutschland heute. Dazwischen ein verblichenes Zeitungsfoto: eine Studentenbrigade mit ihrem Parteifunktionär – einem „Kader“, der Karriere macht. Unter den Studentinnen erkennt Kaspar Wettner seine Frau wieder.

Der erste Teil des Romans „Die Enkelin“ bringt eine ganz typische Schlink-Konstruktion ins Bild: Ein sanfter, kluger, kultivierter Mann liebt eine Frau, die ein Geheimnis in sich trägt und es nicht offenbaren kann. Eine tiefe, aber nicht erfüllende Liebe. Und eine leise Traurigkeit in dieser Beziehung. 

Nach und nach erschließt sich für Kaspar Wettner das Geheimnis, über das seine Frau nie hatte sprechen können und über dem sie alkoholkrank geworden war: Sie hatte ein Kind mit diesem Parteisekretär. Ein Kind, das sie zurückgelassen hatte, als sie aus der DDR in den Westen geflohen ist. Ein Kind, das eine „Umerziehung“ im Jugendwerkhof Torgau durchlitten hat. Ein Kind, das in das Milieu der Neonazi-Szene abgedriftet war. Ein Kind, zu dem die Mutter den Kontakt aufzunehmen nie den Mut gefunden hat. 

Kaspar Wettner macht sich auf die Suche nach dieser Tochter. Er taucht ein in das Milieu am äußersten rechten Rand der deutschen Gesellschaft. Und findet die Tochter seiner Frau auf einem von völkisch-nationalistischen Siedlern bewirtschafteten Bauernhof, in einem „national-befreiten“ Dorf in Mecklenburg.   

Dieser zweite Teil von Bernhard Schlinks Roman ist anstrengend. Weil es eben anstrengend ist, sich mit diesem völkisch-nationalen Denken auseinander zu setzen. Weil es Angst macht und tief verunsichert. Weil ich als Leser weiß, dass es dieses Milieu gibt und dass es nicht zu ignorieren ist. Weil ich aber keine Idee davon habe, wie ich mich in der Konfrontation mit diesem Milieu verhalten könnte. 

Auch Kaspar Wettner hat davon keine Idee. Er stolpert so unbeholfen durch den Roman, wie Schlinks sanfte, kluge, kultivierte Männer das für gewöhnlich tun. Er tut das aus Liebe zu seiner verstorbenen Frau und er tut das in einem bewegenden Glauben an das Gute im Menschen, das doch irgendwo unter der rauen rechten Schale zu finden sein muss. Und er tut das in der Hoffnung, der Enkelin seiner Frau einen Weg aus diesem fremdenfeindlich-völkischen Milieu öffnen zu können. 

Sigrun, so der Name der Enkelin, ist in dem „national-befreiten“ Dorf Lohmen aufgewachsen. Tief hat sie die nationalistische Ideologie in sich aufgenommen. Als Kaspar Wettner sie kennenlernt, ist sie gerade vierzehn Jahre alt. Eine Distanzierung vom Weltbild ihrer Eltern ist ihr kaum möglich: Zu sehr empfindet sie all das, was in der Mitte und im linken Spektrum der Gesellschaft gilt, als bedrohlich und verachtenswert. Sie sucht ihren Weg eher in noch weiter rechts liegenden Orientierungen und läuft Gefahr, sich zu radikalisieren. Was bedeuten da die Zugänge zu Literatur, zu Musik, zu Reisen, die ihr Kaspar Wettner anbieten kann?

„Auf der Wanderung kam Sigrun auf den Besuch bei Irmtraud zurück. Sie saßen auf der Terrasse der Heilandskirche und hatten eine Weile geschwiegen; Kaspar dachte, Sigrun sei vom Blick auf die Säulen der Arkaden, den in der Sonne silbern schimmernden See und das junge Grün des Walds am anderen Ufer ebenso heiter gestimmt wie er. Aber sie war mit ihrer Zukunft beschäftigt. »Ich verstehe, dass ich die Schule abschließen muss. Aber darum muss ich doch nicht in Lohmen bleiben. Warum kann ich nicht bei Irmtraud wohnen und hier in die Schule gehen?«    

»Weil Irmtraud dich nicht in der Wohngemeinschaft haben will. Warum hast du’s so eilig?«

»Ich will nicht mehr am Seil turnen und mit dem Reifen spielen und Lieder singen. Ich will kämpfen.«

»Gegen wen?«

»Gegen das System.«

Kaspar wusste nicht, was er sagen sollte. Dann frage er: »Was ist das System?«

»Alles eben. Dass Deutschland nicht mehr den Deutschen gehört, dass es den Ausländern bessergeht als unseren, dass die Juden und ihr Geld alles bestimmen, dass es so viele Muselmänner und Moscheen gibt.«

»Gibt es bei euch eine Moschee?«

Kaspar spürte, wie stolz Sigrun war, dass sie jede seiner Fragen beantwortete, jeden seiner Einwände parierte. Er war müde. Das eifernde Mädchen, seine Ignoranz, seine Anmaßung, seine Unerreichbarkeit und die Hilflosigkeit, die er im Gespräch empfand, machten ihn müde. Was sollte er ihr sagen, wie sie erreichen?“

Leseprobe

Ja, was bedeuten die Zugänge zu Literatur, zu Musik, zu Reisen, die Kaspar Wettner anbieten kann? Sie bedeuten viel! 

Im dritten Teil seines Romans erzählt Bernhard Schlink von der Begegnung Sigruns mit der Welt, die er (Bernhard Schlink) so liebt – Kaspar Wettner trägt viele Züge seines Autors und der Roman manchen autobiographischen Zug. Aber es wird keine unrealistische Ausstiegs- oder gar Bekehrungsgeschichte. Der Jurist Bernhard Schlink hat genügend Fallbeispiele aus der Neonaziszene vor Augen, um realistisch schildern zu können, wie schwer der Ausstieg aus dieser Szene ist. Am Ende des Romans verlieren wir Sigrun aus den Augen und bleiben bei Kaspar Wettner, der ihr so gerne ein guter Großvater geworden wäre. Wir bleiben zurück mit dem angefochtenen Glauben an das Gute im Menschen. Wir bleiben zurück mit der Hoffnung, dass es für Sigrun eine Alternative zum völkisch-nationalen Milieu gibt. Wir bleiben zurück, beeindruckt von der Liebe Kaspar Wettners zu seiner starken und schwierigen Enkelin – einer Liebe, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft und alles duldet. Wenn es auch vielleicht nicht die Zugänge zu Literatur, zu Musik, zu Reisen sind, die Sigrun eine Alternative öffnen – diese Liebe ist es!

Bernhard Schlink, Die Enkelin

Roman, Diogenes-Verlag, Zürich, 2021

ISBN: 978 3 257 07181 8

Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi

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