Reformation 2021-03-25

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders …“

von Hans–Christian Beutel

Am 2. April 1521 rumpelt ein offener Reisewagen durch das Stadttor von Wittenberg. Der Goldschmied Christian Döring hatte die Kutsche für eine denkwürdige Fahrt zur Verfügung gestellt: Luther macht sich auf den Weg zum Reichstag nach Worms.

Der Reichsherold Caspar Sturm begleitet ihn, um das freie Geleit zu gewährleisten, dass Kaiser Karl für 21 Tage zugesichert hatte. Und einige Freunde Luthers sind mit von der Partie.

Eine fröhliche Landpartie ist das in der Tat! Wohin Luther auch kommt: die Leute begrüßen ihn voller Begeisterung. Vor allem den Empfang in Erfurt genießt Luther. Hier hatte er studiert. Dass er seine Dissertation damals in Wittenberg und nicht an der Universität Erfurt eingereicht hatte, war mit Missvergnügen aufgenommen – Luthers Verhältnis zu seiner Alma Mater war seitdem gespannt gewesen. Nun aber kommt ihm der Rektor mit sechzig Reitern entgegen, um ihm das Geleit in die Stadt zu geben!

Man bittet Luther um eine Predigt. Die Kirche ist überfüllt. Es knarrt bedenklich im Gebälk der Empore. Einige der Hörer wollen sich schon durch das Fenster in’s Freie retten. Da beruhigt Luther die Lage: Es sei doch der Teufel, der da seinen Spuk treibe. Die Leute sollten nur stille stehen, dann geschähe nichts Übles – „… wie denn auch kein Unfall geschah“, so vermerkt es ein spürbar erleichterter Augen- und Ohrenzeuge.

Es ist kein rhetorischer Kniff, wenn Luther hier auf den Teufel verweist. Zutiefst ist der Reformator davon überzeugt, dass die Mächte der Hölle ihn davon abhalten wollen, auf dem Reichstag zu sprechen. Und täglich erhält diese Überzeugung neue Nahrung.

Eine fröhliche Landpartie ist die Reise nun nicht mehr: Man kommt nicht richtig voran. Immer neue Hemmnisse stellen sich ein. In Eisenach wird Luther ernstlich krank. Er muss zur Ader gelassen werden. Die Zeit wird knapp. 21 Tage hat Luther freies Geleit – von dem Tag an gezählt, da er die Vorladung Kaiser Karls erhalten hat. Nun läuft diese Frist aus. Georg Spalatin schreibt: Luther solle lieber doch nicht nach Worms kommen – alles sähe danach aus, dass er dort verurteilt würde. 

Aber Luther will nach Worms! Um jeden Preis will er nach Worms! Selbst „wenn so viel Teufel zu Worms wären, als Ziegel auf den Dächern“! 

Am 16. April kommt Luther an. 2000 Menschen verfolgen seinen Einzug – allerdings nicht mehr nur Sympathisanten. Luther wird im Johanniterhof einquartiert – nahe beim Bischofshof, in dem der Reichstag berät.      

Am 17. April, nachmittags um 4 Uhr, findet die Anhörung endlich statt, auf die Luther so lange warte musste! 

Luther war nicht klar, worauf er sich einzustellen hatte. Sein Wunsch war, dass er seine theologische Erkenntnis darlegen und verteidigen könne. In der Halle des Bischofshofes schlägt ihm aber die Atmosphäre eines Gerichtssaales entgegen. Ein Reichstagsteilnehmer schildert die Situation: Es „wurde ein Mensch vorgeführt, den man Martin Luther nannte, im Alter von 40 Jahren, etwas darüber oder darunter, derb von Körperbau und Antlitz mit nicht besonders guten Augen, die Mienen beweglich. Er trug als Kleidung ein Gewand des Augustinerordens mit einem Ledergürtel, die Tonsur groß und frisch geschoren“.

Tatsächlich ist Martin Luther zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt – der Kaiser, dem er gegenüber steht, ist gerade 21 Jahre alt geworden. Es ist nicht das Zusammentreffen eines ungestümen Reformators mit dem konservativen Repräsentanten der weltlichen Macht, nicht das Aufeinandertreffen von Neuzeit und Mittelalter. Hier treffen zwei Menschen aufeinander, die beide für eine grundlegende Reform der Kirche brennen. Leidenschaftlich brennen! Die beiden hätten sich verstehen können!

Aber es kommt anders: Eine echte Anhörung Luthers ist nicht vorgesehen. Auf einem Tisch sind seine Schriften und Bücher ausgelegt. Ein Sekretär des Bischofs von Trier fragt Luther, ob er seine Bücher erkenne, und ob er widerrufen wolle. 

Luther ist zunächst verdattert. Sein Kollege Hieronymus Schurff, Professor der Rechte an der Wittenberger Universität, springt ihm zur Seite: „Man zeige die Bücher mit Namen an.“ Nun werden die Titel der Schriften umständlich vorgelesen. Luther erhält die Denkpause, die er braucht, um sich zu sammeln: 

Mit leiser und verhaltener Stimme erklärt er: Ja, diese Schriften stammen von ihm, verleugnen würde er sie nimmer. Aber ob er sie widerrufen würde, müsse man im Einzelnen sehen. Er könne nicht in Bausch und Bogen widerrufen, „weil dies eine Frage vom Glauben und der Seelen Seligkeit ist, und Gottes Wort belangt, welches der höchste und größte Schatz im Himmel und auf Erden ist.“

Enttäuschung im Saal. Die einen hatten sich einen raschen Widerruf erhofft, die anderen einen kämpferischen Luther. So kommt man nicht weiter. Man vertagt sich: Luther solle am kommenden Tag noch einmal erscheinen – wieder um 4 Uhr. Mit einem „So heb Dich!“ wird er entlassen.

Am 18. April ist Luther zur angegebenen Zeit wieder im Bischofshof. Zwei Stunden lässt man ihn warten. Dann führt man ihn in einen noch größeren Saal. Der ist überfüllt, heiß und stickig. Sogar einige der Fürsten müssen stehen, weil der Platz nicht reicht. Nun tritt ein, wovor der apostolische Nuntius Aleander von Anfang an gewarnt hatte: Luther hat die große Bühne, die er braucht, um seinen Glauben zu bezeugen:

Ja, es seien seine Bücher und Schriften, aber man müsse ihn einzeln auf sie eingehen lassen, zu unterschiedlich seien Inhalt und Adressatenkreis. Und gewiss seien einige seiner Äußerungen kontrovers zu beurteilen, wenn er bei ihrer Abfassung „etwas heftiger und schärfer gewesen, als es nach Gelegenheit der Religion und Profession sich gehört hätte, denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen.“

Widerrufen könne er aber nur dann, wenn man ihm aus der Bibel nachweisen würde, dass er geirrt habe – darauf läuft die lange und wohl vorbereitete Rede hinaus. Schließlich wird es dem kaiserlichen Orator zu viel: Luther solle keine gehörnte Antwort geben, sondern rund und richtig sagen, ob er widerrufen wolle oder nicht. 

Und nun folgen die Worte, die Luther unvorbereitet und frei formuliert spricht:

„Es sei denn, dass ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift, oder mit öffentlichen klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden werde … solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch gerathen ist, etwas wider das Gewissen zu thun. Hie stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“

Inzwischen ist es Nacht in Worms geworden. Die Reichstagssitzung wird wiederum vertagt. Man bringt Luther in seine Herberge. Die ungeheure Anspannung des Tages bricht sich Bahn, als Luther ausruft: „Ich bin hindurch. Ich bin hindurch!“ 

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