Am 4. Mai 1521 gegen Abend lauern die Ritter Burkhard Hund von Wenkheim und Hans Sittich von Berlepsch einem Reisewagen auf. Ihre gewappneten und berittenen Gefolgsleute stehen gut verborgen im Dickicht des Thüringer Waldes nahe der Burg Altenstein. Als der Wagen eine Engstelle passiert, brechen die Reiter hervor und zwingen den Wagen zum Halt.
Was wie eine Szene aus einem Raubritterroman wirkt, ist ein klug inszenierter Schachzug seines Landesherrn, Friedrich, des wahrhaft Weisen: Im Wagen sitzt Martin Luther mit seinen Begleitern. Er ist auf dem Heimweg vom Reichstag in Worms. Er hat seine Lehre nicht widerrufen. Dem Kaiser bleibt jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als ihn mit der Reichsacht zu belegen, und die bedeutet für Luther Lebensgefahr. Fast fluchtartig hat er Worms verlassen – Kaiser Karl hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, ihn festzusetzen und der Inquisition zu überantworten. Dass er diese Möglichkeit nicht genutzt hat, wird ihm noch als altem Mann schwer auf dem Gewissen liegen. Jetzt aber, in Worms, sagt ihm sein Gewissen: es wäre nicht gut, Luther das freie Geleit zu entziehen. Er hält sich an sein gegebenes Wort. Und mehr noch: Erst am 8. Mai verhängt Karl die Reichsacht gegen Luther und erst am 24. Mai, als klar ist: Martin Luther ist in Sicherheit, veröffentlicht er diesen Beschluss!
Luther weiß zunächst nicht, wie ihm geschieht: Auf der Rückreise von Worms schreibt er in Frankfurt einen Brief an seinen Freund Lucas Cranach: „Ich lass mich eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht wo, und wiewohl ich lieber hätte von den Tyrannen … den Tod erlitten, muß ich doch guter Leut Rat nicht verachten bis zu seiner Zeit.“ Ganz ahnungslos ist er also nicht, als er am Abend des 4. Mai von dem fingierten Raubüberfall überrascht wird. Aber was die gewappneten Berittenen mit ihm vorhaben, das weiß er nicht.
Die aber haben tatsächlich eine Überraschung mit ihm vor: sie lassen ihn auf ein Pferd steigen (ein geübter Reiter ist Luther beileibe nicht) und bringen ihn auf Umwegen nach Eisenach. Als es Morgen wird, findet Luther sich auf der Wartburg wieder, wo ihm ein bescheidenes aber doch auch bequemes Zimmer über dem ersten Burghof angewiesen wird.
Eisenach! Hier ist seine Mutter aufgewachsen. Hier hat Luther Verwandte. Hier, so entsinnt er sich, hat er als Kind Erdbeeren im Wald gesammelt. Es ist eine freundliche Geste seines Landesherren, ihn gerade hier in Schutzhaft zu halten. Und diese Freundlichkeit hat Luther gewiss nötig. Denn zunächst ist es eine bitter-schwere Zeit für ihn:
Er, dem jedes taktische Kalkül zuwider ist, muss nun ein taktisches Inkognito wahren: Statt der Mönchskutte werden ihm die Kleider eines Landadligen gegeben. Man redet ihn mit „Junker Jörg“ an. Man sagt ihm, dass er sich einen Bart stehen und die Mönchstonsur herauswachsen lassen solle. Nach ein paar Tagen erkennt er sich selbst nicht wieder, wenn er in den Spiegel blickt. Immerhin erlaubt ihm dieses Inkognito, sich auf der Burg, im Wald und in der Stadt Eisenach frei zu bewegen. Sogar seine Verwandten kann er besuchen. Aber er ist ungeschickt darin, sein Inkognito zu wahren. So kommt es zu Gerüchten, er halte sich auf der Wartburg auf. Eilig bemüht er sich, den Schaden zu beheben: er schreibt einen fingierten Brief aus Böhmen an Spalatin, der ihn „durch vorsätzliche Sorglosigkeit“ verlieren sollte: „Ich höre, mein lieber Spalatin, daß das Gerücht sich verbreite, Luther halte sich auf dem Schlosse Wartburg bei Eisenach auf. Es ist zu verwundern, dass jetzt niemand an Böhmen gedenkt.“ Wie gut, dass Spalatin in vorsätzlicher Fürsorglichkeit den Brief gut verwahrt, denn deutlicher als mit dieser plumpen Anspielung hätte Luther seinen wahren Aufenthaltsort nicht „leaken“ können!
Schwerer aber als dieses Inkognito lastet die Untätigkeit auf Luther. Die letzten Monate hat er in geistiger und emotionaler Hochspannung gelebt – rastlos und ungeduldig. Nun ist er zur Ruhe verdammt – für einen „workaholic“ wohl das schlimmste Schicksal. Es ist tatsächlich, als sei Luther „auf Entzug“. In seinen Briefen schildert er, wie miserabel es ihm körperlich geht. Er fleht förmlich darum, dass man ihm aus Wittenberg die angefangenen Arbeit und die nötigen Bücher zusende. Und die Auseinandersetzung mit den Gegnern, die ihn sonst so sehr stimuliert, fehlt ihm jetzt bitter: „Ich fürchte nämlich, daß ich die Schlachtreihe zu verlassen scheine. Dennoch stand kein Weg offen, auf dem ich denen, die es wollten und die es rieten, Widerstand leisten konnte. Nichts wünsche ich mehr, als dem Wüten der Feinde mit preisgegebener Kehle entgegenzueilen.“ – so schreibt er am 12. Mai an Philipp Melanchthon (und man denkt beim Lesen unwillkürlich: Der Mann gehört auf Entzug!)
Unterschrieben ist der Brief: „Am Sonntag Exaudi 1521, im Reich der Vögel. Dein Martin Luther“. Tatsächlich, in seinem Zimmer hoch über den Wäldern des Thüringer Waldes kann man sich den Vögeln wohl näher als den Menschen fühlen! Luther aber merkt, wie trotz der weiten Aussicht aus seinem Fenster, sein Horizont eng wird. Er ist abgeschnitten von den Nachrichten und Auseinandersetzungen um die Reform der Kirche. Was er erfährt und was nicht, das sortieren andere für ihn vor. Ihm ist das schier unerträglich.
So erleidet Luther die erzwungene Ruhepause im Mai 1521 und wartet auf die erbetenen Arbeitsmaterialien aus Wittenberg. Und er sammelt, trotz allem Unwohlsein, dabei neue Kraft für ein publizistisches Feuerwerk – aber dazu kommen wir erst in der nächsten Postille.
Herzlichen Dank an Alexander Savin (Александр Савин) für das Foto der Wartburg bei Eisenach.
Weitere Fotos von A. Savin finden sich unter Photographs by A.Savin.