Frieden, Impulse, Leselampe 2022-02-26

Ist Sehnsucht vererbbar?

von Hans–Christian Beutel

Ein Plattenbau in Helsinki. In einer unpersönlichen Gästewohnung sitzt eine junge Frau am Küchentisch. Auf dem Laptop vor ihr blinkt der Cursor in einer angefangenen Mail. Die Frau schafft es nicht, die Mail zu Ende zu schreiben.

„Sie kann nicht einfach zum Gerichtsgebäude gehen und anklopfen. Sie ist in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Sie weiß nicht, an wen man sich wendet, nur, dass sie einen Anwalt braucht, und Anwälte kosten Geld. Sie weiß aber, dass sie die Aussage machen muss, in einem holzgetäfelten Saal und vor Geschworenen, wie sie es im Film gesehen hat. Und wenn die Verteidiger sagen, Einspruch Euer Ehren, weil ihre Aussage ungeheuerlich ist, wird die Richterin den Kopf heben. Sie wird sich Zeit nehmen, jeden Verteidiger zu mustern, und das wird lange dauern, weil für Männer wie diese ein einziger Verteidiger nicht reicht. Einspruch abgelehnt, wird die Richterin sagen. Bitte, Adina Schejbal, sprechen Sie weiter.“

Adina Schejbal hat sich nach Helsinki durchgeschlagen. Hier erwartet sie, dass Menschenrechte ernst genommen werden. Hier will sie, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt. Gerechtigkeit, ohne die sie aus ihrem Trauma nicht herausfinden kann. 

In Helsinki lernt Adina Leonides kennen, einen Politikwissenschaftler aus Estland, der im EU-Parlament für Menschenrechtsfragen eintritt. Das individuelle Trauma der jungen Frau und das kollektive Trauma eines kleinen postsowjetischen Landes treffen aufeinander. Ja, auch diese Erfahrungen gehören zu Adinas Geschichte: aufgewachsen in einem Dorf im tschechischen Riesengebirge – ihr Großmutter hat die Niederschlagung des Prager Frühlings und ihre Mutter die Samtene Revolution in Prag erlebt. Aber jetzt ist Adina mit ihrer persönlichen Gewalterfahrung beschäftigt: Als Praktikantin in einem entstehenden Begegnungszentrum an der deutsch-polnischen Grenze wird sie von einem für die Weiterexistenz des Zentrums wichtigen schwäbischen Investor überwältigt, sie wird vergewaltigt, ihr wird Gewalt angetan. Und alle, die das mitbekommen, schweigen – weil sie alle in unterschiedlicher Weise abhängig sind von diesem Machtmenschen.

Individuelle und kollektive Gewalterfahrungen sind Thema in diesem anspruchsvollen Roman – ebenso wie die Erinnerungskulturen in den verschiedenen europäischen Ländern. 

„Erst wenn eine Französin, wenn ein Deutscher bereit sind, zu sagen, der Gulag ist unser ureigenes Problem, so wie Auschwitz unser ureigenes Problem ist, steuern wir nicht mehr auf ein westliches, ein östliches, ein mittleres Europa, also auf den Zerfall Europas zu.“

Wie schwer die Ebenen individueller und kollektiver Gewalt auseinanderzuhalten sind, wie unzuträglich es wäre, weiter in unterschiedlichen Erinnerungsräumen zu leben, das wird an zwei Figuren deutlich, denen Adina begegnet: Leonides eben, der so mit den großen Fragen der Menschenrechte beschäftigt ist, dass es ihm schwer fällt, Adinas Verletzung zu begreifen. Und andererseits Kristiina, einer Menschenrechtsaktivistin und Abgeordneten im finnischen Parlament, die sich für Adina einsetzt und davon so absorbiert wird, dass ihr zeitweise ihr Einsatz für eine Menschenrechtsproblematik in Finnland entgleitet. 

Finnland, das „Scharnier zwischen Ost- und Westeuropa“, Helsinki, die Stadt der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – etwas von Beschwörung liegt in der Rolle, die Antje Rávik Strubel dem Ort zuweist, in dem die Haupthandlung ihres Romanes spielt. Als eine Art finnischer Seele fungiert die Blaue Frau, die im Ungefähren bleibt, auftaucht und sich wieder entzieht, ein alter ego der Verfasserin, ein alter ego aber auch der Protagonistin. Die Blaue Frau – auch wenn sie auf die großen Problemaufrisse des Romanes keine Antwort zu geben vermag – stellt an entscheidender Stelle dann doch immerhin die richtigen Fragen:

„Gewalt, entgegne ich, werde über Generationen hinweg vererbt. Die Wissenschaft habe dafür Beweise.

Wesentlicher sei aber doch, sagt die blaue Frau mit einem Lächeln, das mich trifft, ob Sehnsucht ebenfalls vererbbar sei.“

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau – Roman

S. Fischer Verlag, 2021

ISBN 978-3-10-397101-9

Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi

Comments 2
  • Hallo Hans Christian,
    woraus schließt Du, dass Kristiina ihren Einsatz für Menschenrechtsproblematik entgleitet??? Habe ich da was überlesen?? Sie erwähnt doch sogar den jungen Mann, der unter den Umständen nicht weiter in dem Ausschuss arbeiten will mit einer Anspielung auf die Menschenrechtsverletzungen der Finnen an den Samen.

    • Liebe Gudrun, herzlichen Dank für Deinen Kommentar!
      Kristiina, hat ihrer Sekretärin aufgetragen, einen Termin mir Adina zu machen. Routine im Abgeordnetenbüro. Als Adina dann aber vor ihr sitzt, spürt Kristiina, dass dieser Mensch jetzt Vorrang haben muss vor allem anderen, was ansteht. So lässt sie das geplante Treffen mit der Migrationsbeauftragten absagen, um genügend Zeit für Adina zu haben. Abends denkt sie zurück an das Gespräch „und sie musste sich eingestehen, dass die Unmittelbarkeit eines Menschen, der vergewaltigt und gefoltert worden war, überforderte.“ (S. 348)
      Kristiina nimmt sich viel Zeit für das Gespräch mit der Anwältin Liv und bringt viel emotionale Energie ein – danach „schwänzt“ sie die Fraktionssitzung. Adinas Geschichte begleitet sie in den Meetings und Gesprächen der nächsten Tage und absorbiert viel von ihrer Kraft. Der „Zehn-Punkte-Plan zur Verbesserung der Lage rumänischer Leiharbeiter auf den Nerzfarmen in Ostbottnien“, an dem Kristiina gearbeitet hatte, als Adina zu ihr kam, bleibt zunächst liegen, dann nimmt Kristiina ihn mit als sie ihre Mutter besucht – im Zug nach Tampere fehlt ihr aber die Kraft, sich noch einmal darauf zu konzentrieren. (S. 399). Dann wird die Sache nicht mehr erwähnt.
      Ich finde diesen Zug im Roman „Blaue Frau“ so berührend, weil er die Überforderung sichtbar macht, die der Einsatz für einen konkreten Menschen eben auch bedeuten kann, sichtbar macht. Kristiina ist mir darin sehr sympathisch, dass sie diese Überforderung nicht vermeidet, nicht ausweicht und auf Hilfsorganisationen verweist. Diese gerade und ehrliche menschliche Zuwendung, zu der Kristiina fähig ist, finde ich einen starken Zug in ihrer Charakterisierung.
      Herzliche Grüße, Hans-Christian

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