Dezember 1520: Luther beginnt seine Auslegung des Magnificat
Ein trüber Wintertag. Nebel liegt über der Szene. Im Hintergrund sind Mauer und Türme einer mittelalterlichen Stadt zu sehen. Im Vordergrund stehen Menschen, die sich um ein Feuer scharen. Im Mittelpunkt ein Mönch in schwarzem Habit. Der rechte Arm hoch erhoben, in der Hand ein Blatt zerknüllten Papiers. Der Blick männlich entschlossen auf das Feuer gerichtet, in dass er die Schrift zu werfen im Begriff ist.
Entsetzte Blicke der Umstehenden: Etwas Großes muss sich hier gerade ereignen! Andere Blicke hat der Maler offensichtlich den Andachtsbildern naivster Heiligenverehrung entlehnt: Nun aufwärts schräg den Blick gewandt! Ein Mann in feuerroter Kleidung schleppt Bücher heran, die er den Flammen übergeben wird. (Link zum Bild von Paul Thumann)
So ist es nicht gewesen, an jenem 10. Dezember 1520. An dem Tag verbrennt Martin Luther die Bannandrohungsbulle des Papstes. Und dazu noch die Bücher des Kanonischen Rechts, also die geltenden Gesetzessammlungen der Papstkirche. Eine sorgfältig geplante Aktion: Eine Woche vorher hatte Luther seinen Landesherrn Friedrich den Weisen informiert, dass er die Verbrennung des päpstlichen Rechtes vorbereite. Das Datum ist sorgfältig gewählt: am 10. Dezember läuft die Frist von 60 Tagen ab, die man Luther zum Widerruf seiner Schriften eingeräumt hatte. Philipp Melanchton heftet einen Aushang an die Tür der Stadtkirche: Alle, denen es um die evangelische Wahrheit ginge, sollten sich um neun Uhr draußen vor dem Elstertor versammeln – dort auf dem Schindanger würde die Bücherverbrennung stattfinden. Johann Agricola organisiert den praktischen Teil des Flammengerichts: er trägt die Rechtsbücher zusammen (theologische Bücher wie z.B. Thomas von Aquin und Duns Scotus hatte der besorgte Universitätsbibliothekar nicht herausgerückt, so dass sie den Flammen entgehen). Und Agricola ist es nun auch, der herantritt, um den Scheiterhaufen zu entzünden. Erst als die dicken Bücher brennen, tritt Luther zum Feuer, zögernd und in sich gekehrt. „Zitternd und betend“, so schreibt er es später einem Freund, wirft er die Bulle des Papstes in den brennenden Haufen. Mit leiser Stimme spricht er dazu Worte, die an Psalm 21,10 anklingen: „Weil du die Wahrheit Gottes verderbt hast, verderbe dich heute der Herr.“
Nicht der glaubensfeste Held wie auf dem Bild von Paul Thumann wird in den zeitgenössischen Berichten erkennbar, sondern ein tief nachdenklicher Mensch, dem offensichtlich sehr genau bewußt ist, was er da gerade tut. Es ist der „point of no return“, der nicht mehr zu heilende Bruch mit der Kirche seiner Zeit, den Luther hier vollzieht.
Ich kann mir nicht denken, dass Angst ihn so zögerlich gemacht haben sollte. Auch Zweifel an der Richtigkeit dieser Aktion passt nicht in’s Bild. Die Verbrennung der Bulle ist so folgerichtig, dass Luther gewiss nicht die Sache an sich in Frage gestellt hat. Aber sich als Person stellt er in Frage.
Luther kennt sich selbst zu genau, als dass er nicht um die Gefahr des Stolzes wüßte: In einem wahren Schaffensrausch hat er im zurückliegenden Jahr Buch um Buch geschrieben und eine ungeheure Resonanz auf seine Schriften gespürt. Luther kennt sich selbst zu genau, um nicht auch seine Neigung zum Jähzorn zu kennen, seine Schwierigkeiten, angemessen zu reagieren, wo er sich provoziert sieht. Das darf jetzt nicht hervorbrechen, wo es um den entscheidenden Schritt in der Auseinandersetzung mit dem Papst geht!
Und so fängt Luther in diesen Tagen an, sich mit dem Lobgesang der Maria zu beschäftigen, dem „Magnificat“. Er beginnt an einer Auslegung dieses adventlichen Textes zu schreiben. Beenden wird er diese Schrift erst im Sommer des nächsten Jahres. Da lebt er schon auf der Wartburg verborgen.
Mein Seele erhebt Gott den Herrn.
Und mein Geist freut sich in Gott, meinem Heiland.
Denn er hat mich, seine geringe Magd, angesehen; darum werden mich selig preisen Kindeskinder ewiglich.
Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und des Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währt von einem Geschlecht zum andern, bei allen, die ihn fürchten.
Er wirket gewaltig mit seinem Arm, und zertreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thorn, und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und die Reichen lässt er leer.
Er denkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf.
Wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.
Lukas 1,46-55
Um das Wort „Demut“ kreisen Luthers Gedanken. Demut ist das, was er jetzt braucht. Demut ist das, was er im Kloster zu lernen gehofft hatte. Doch hatte ihn dort die falsche Demut gestört – ohne dass er in der Lage gewesen wäre, zu einer echten Demut zu finden. Nun begegnet er in den Worten Marias einer Haltung der realistischen Selbsteinschätzung vor Gott. Und die fasziniert Luther:
Maria sagt nicht: „»meine Stimme« oder »mein Mund«, auch nicht »meine Gedanken«, auch nicht »meine Vernunft« oder »Wille« macht den Herrn groß. Denn ihrer sind viele, die Gott mit lauter Stimme preisen, mit kostbaren Worten predigen, viel von ihm reden, disputieren, schreiben und malen, viele, die sich über ihn Gedanken machen und durch die Vernunft nach ihm trachten und spekulieren, dazu viele, die ihn mit falscher Andacht und Willen erheben. Sondern so sagt sie: »meine Seele macht ihn groß«, das ist: mein ganzes Leben, Weben, Sinn und Kraft halten viel von ihm, sie dass sie gleichsam in ihn verzückt und sich in seinem gnädigen guten Willen emporgehoben fühlt“.
Ich bin doch die ganze Zeit immer nur mit mir beschäftigt gewesen: Wie schaffe ich es, dass ich einen gnädigen Gott finde? Was muss ich tun, damit ich vor Gott annehmbar werde? Wie komme ich denn in ein Verhältnis zu Gott, in dem ich bestehen kann? In all diesen Sätzen geht es doch immer um ein „ich“ – und nicht um Gott. Maria aber sieht auf Gott.
„Denn Maria sagt nicht: »Meine Seele macht sich selbst groß« oder »hält viel von sich«. Sie wollte auch gar nichts von sich gehalten haben. Sondern allein Gott macht sie groß, dem schreibt sie es ganz allein zu.“
Maria ist offen und empfänglich für Gott, weil sie von sich absehen kann und damit einen freien Blick auf Gott gewinnt. Und dieser Blick begegnet dem Blick Gottes: Von Gott angesehen zu sein, angeschaut und wahrgenommen zu werden, das ist es, was sie zu diesem herzensfrohen Lobgesang bringt.
„Das Wörtlein »humilitas« haben etliche hier zur »Demut« gemacht, als hätte die Jungfrau Maria ihre Demut angeführt und sich deren gerühmt. … Sie rühmt sich nicht ihrer Würdigkeit noch ihrer Unwürdigkeit, sondern allein des göttlichen Ansehens, welche so übergütig und übergnädig ist, dass er auch eine so geringe Magd angesehen hat und so herrlich und ehrenvoll ansehen wollte. … Darum liegt das Schwergewicht nicht auf dem Wörtlein »humilitatem« (Nichtigkeit), sondern in dem Wörtlein »respexit« (er hat angesehen). Denn ihre Nichtigkeit ist nicht zu loben, sondern Gottes Ansehen.“
Wie ein Anker ist das für Martin Luther. Sich vom publizistischen Erfolg und der Begeisterung seiner Leserschaft nicht davontragen lassen. Sich vom Bannstrahl des Papstes und den geifernden Angriffen seiner Entourage nicht provozieren lassen. Es geht nicht um Dich, Martin! Es geht um Gott!
„Merke die Worte: Maria sagt nicht, man werde ihr viel Gutes nachsagen, ihre Tugend preisen, ihre Jungfrauschaft oder Demut erheben, oder etwa ein Liedlein von ihrer Tat singen, sondern allein davon, dass sie Gott angesehen hat, davon wird man sagen, sie sei selig. Das ist doch Gott die Ehre so rein geben, dass es nicht reiner sein könnte.“
Nun ist Martin nicht Maria. Das weiß er nur zu gut. Jahre im Kloster hat er damit verbracht, gegen den unfruchtbaren Stolz in sich anzuleben, seinem aufbrausenden Jähzorn Zügel anzulegen, sein hochfahrendes Wesen zu befrieden. Demut hat er damit nicht erreicht. Aber er hat erkannt, dass Demut niemals ein Ziel sein kann, auf dass jemand zuarbeiten könnte. Demut ist nicht erreichbar. Das Paradox ist doch, dass Demut sichtbar wird nur bei dem, der Grund zu einem Stolz zu haben glaubt. Und dann ist sie nicht mehr Demut.
„Gott erkennt allein die Demut, richtet auch und offenbar sie allein, so dass der Mensch niemals weniger von der Demut weiß, als eben wenn er recht demütig ist.“
Du kannst Dich nicht zur Demut erziehen.
Demut muss in Dich einziehen.

Den Text von Martin Luthers Auslegung des Magnificat findest Du im Internet hier: Lobgesang der Maria.