Postille, Reformation 2021-09-25

„Meinen Deutschen bin ich geboren.“

von Hans–Christian Beutel

Herbst über dem Thüringer Wald. Zauberhafte Laubfärbung in den Baumkronen, Herbstnebel liegt in den Tälern und spätes Sonnenlicht auf den Bergen. Die Kamera schwenkt über die Bergkuppen, die Wartburg kommt in’s Bild, bleibt beim Wohnhaus über der Vorburg stehen und zoomt auf ein Fenster im oberen Geschoss. Dort sitzt Martin Luther an seinem Arbeitstisch und schreibt. Zoom auf das Blatt, auf die Handschrift Luthers: er schreibt auf Deutsch.

So ungefähr könnte ein Film beginnen über eine der folgenreichsten Entscheidungen, die Luther in seinem Leben getroffen hat: Luther entscheidet sich für die deutsche Sprache. Das Evangelium soll in Zukunft in der Sprache verkündigt werden, die die Menschen in ihrem Alltag sprechen. Leicht ist diese Entscheidung nicht – sie bedeutet für viele Zeitgenossen eine Profanisierung der Verkündigung. 

Warum aber ist es wichtig, die Landschaft mit in das Bild zu holen, wenn die Entscheidung für die deutsche Sprache thematisiert wird? Einfach deshalb, weil es ein großer Glücksfall der Geschichte ist, dass Luther diese Entscheidung gerade in Thüringen fällt – nahe der Sprachgrenze, an der das Niederdeutsche und das Hochdeutsche aufeinander treffen. 

Die deutsche Sprache gibt es um 1521 ja noch gar nicht, sondern erst einmal eine Vielzahl von Dialekten, die sich jeweils dem Niederdeutschen oder dem Hochdeutschen zuordnen lassen. Der „kommunikative Radius“ eines Menschen in dieser Zeit beträgt etwas über 50 km. Das bedeutet Folgendes: Wenn z.B. ein Kaufmann sich weiter entfernt von dem Ort, an er sprechen gelernt hat, so muss er sich auf eine veränderte Aussprache einstellen, auf andere Begriffe und möglicherweise auch auf eine befremdlich wirkende Satzbildung. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass sich unser Kaufmann dort ohne Schwierigkeiten verständlich machen kann. 

Welch ein Glücksfall der Geschichte ist es, dass Martin Luther in Eisleben  geboren wurde: dort wird Harzer Dialekt gesprochen (eine niederdeutsche Sprachform). Seine Mutter aber stammt aus Eisenach und sein Vater aus Möhra – sie sprechen Thüringer Dialekt (eine hochdeutsche Sprachform). Aufgewachsen ist Luther in Mansfeld und zur Schule gegangen in Magdeburg – beide Orte liegen noch weiter drin im niederdeutschen Sprachraum. Die weiterführende Schule dagegen besucht Luther in Eisenach und spricht dort wieder den hochdeutschen Dialekt seiner Eltern. Und auch in seinem Studium und seiner Klosterzeit in Erfurt begleitet ihn das Hochdeutsche in seiner Thüringer Dialektfärbung. Als Luther dann Bibelprofessor in Wittenberg wird, lebt er genau an der Sprachgrenze zwischen Hoch- und Niederdeutsch. Wie kaum ein anderer Mensch ist Luther dafür geeignet, die Grenze zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch zu überbrücken. 

Den ersten Band seiner Postille hatte er noch auf Latein geschrieben. Nun, im Herbst 1521 auf der Wartburg, nimmt Martin Luther die Arbeit an diesem Buch mit Musterpredigten wieder auf. Und er entscheidet sich dagegen, die Postille auf Latein fortzuführen – er entscheidet sich für Deutsch: in dieser Sprache soll fortan die Verkündigung des Evangeliums geschehen. 

Und es gelingt ihm dabei etwas Erstaunliches: Er schreibt in seinem muttersprachlichen Dialekt*, dadurch kommt Wärme und Natürlichkeit in seine Texte. Aber er öffnet diesen Dialekt, nimmt Wortbildungen aus anderen Dialekten hinzu, flicht typisch Niederdeutsches ein und vermeidet Eigenheiten, die nur regional verständlich sind. Damit erreicht er, dass seine Texte überregional verständlich werden. Vor allem aber schreibt er in einer poetischen und klangvollen Weise, die emotional berührt – Luthers deutsche Sprache ist vor allem eines: sie ist schön.

Hier müsste unser Film über Luthers folgenreiche Entscheidung einige Rückblenden bringen: 

  • der Schüler Martin, der in der Eisenacher Kurrende singt; 
  • der Student Martin, der wegen einer Verletzung am Bein die Krankenstube nicht verlassen darf und die langweilige Zeit damit füllt, sich das Spiel auf der Laute beizubringen und dazu Volkslieder singt; 
  • der Klosterbruder Martin, der im regelmäßigen Stundengebet die Sprache der Psalmen tief in sich aufnimmt und daran sein Gefühl für Versmaß und Ausdrucksform entwickelt; 
  • der junge Theologe, den eines Tages ein Kollege auf die deutschen Predigten des Mystikers Johannes Tauler aufmerksam macht – Martin Luther taucht tief in diese Denkwelt ein und begegnet dort einer reichen und schönen Sprache, die ihn nachhaltig prägt.

All das verdichtet sich in Martin Luther zu einer künstlerischen Intuition im Umgang mit der Sprache: das Deutsch seiner Postille ist hinreißende Sprachkunst voll poetischer Kraft. 

Und noch etwas müsste unser Film zeigen: eine Predigtszene. Menschen, die in einer Kirche aufmerksam hören auf das, was ihnen dieser Prediger Luther dort auf der Kanzel zu sagen hat. Martin Luther versteht sich selber als Prophet, der sich in seinem Reden auf Gott verlässt. Das gibt seiner Sprache eine Sicherheit, die Hörer und Leser in den Bann zieht.

Ausklingen könnte unser Film mit einer Sequenz, in der die Postille ausgeliefert wird: ein junger Theologe, der durch die Schule der Reformation gegangen ist, kauft ein Exemplar der Musterpredigten. Er liest sie für sich.  Er liest sie von der Kanzel für die Gemeinde. Er schult an Luthers Sprache  seine eigene Ausdrucksfähigkeit und (vielleicht ist dies das Wichtigste dabei) wird ermutigt, seiner eigenen Sprache zu vertrauen und in ihr authentisch das Evangelium zu verkündigen.

Schriftdialekte in mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit

* Sprachgeschichtlich lässt sich dieser Dialekt charakterisieren als ein „Frühneuhochdeutsch in ostmitteldeutscher Ausprägung“ – die komplizierte Bezeichnung spiegelt, wie vielgestaltig die Sprachlandschaft zu Luthers Zeit gewesen ist.   

Hans-Christian Beutel

Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi

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