Buchrezension von Jana Gienapp
Über dieses Buch bin ich gestolpert um seines Titels willen – natürlich. Vor dem Ukrainekrieg hatte ich noch nie den Namen dieser Stadt am Asowschen Meer gehört. Dann tauchte er wochenlang in den Nachrichten auf bis zur traurigen Aufgabe der Stadt und der letzten Kämpfenden im Stahlwerk.
Mariupol ist ein sehr klangvoller Name. Jetzt, nachdem ich dieses Buch gelesen habe, weiß ich auch, warum. Es war über Jahrhunderte eine Stadt der vielen Völker, in der Ukrainer, Russen, Griechen, Polen, Italiener, Esten lebten – ein buntes Gemisch der Kulturen und Sprachen und Religionen. Als Stadt mit sehr besonderem Flair wird sie heute auch von Überlebenden und Geflüchteten beschrieben – kaum vorstellbar mit unseren Bildern der Zerstörung im Kopf.
Dieses Buch ist schon 2017 erschienen und erzählt eine Familiengeschichte.
Natascha Wodin, geboren 1945 in Bayern, wächst als Tochter von Zwangsarbeitern in Deutschland auf. Natascha erfährt nur äußerst wenig von ihnen über ihre Herkunft und ihre Heimat. Nach dem Tod der Eltern treibt es sie um. Sie beginnt im Internet nachzuforschen und findet Hilfe von einer Gruppe „Azov`s Greek“. So setzt sie nach und nach das unfassbare Puzzle zusammen.
Es ist eine äußerst bedrückende und grausame Geschichte dieser Familie. Die verschiedenen Generationen erleben Vertreibung und Verbannung im Bürgerkrieg und in der Stalinzeit, erfahren unvorstellbare Hungerjahre und Entbehrungen durch Enteignung und politische Unterdrückung.
Natascha Wodins Eltern werden 1944 als Zwangsarbeiter nach Leipzig gebracht und arbeiten dort unter schlimmsten Bedingungen in den Flick-Werken.
Displaced persons werden sie nach dem Krieg genannt und möglichst schnell von den Besatzungsmächten zurückgeschickt, um Ordnung herzustellen in dem Chaos der zerstörten Städte und unkontrollierter Selbstjustiz, dem Kampf ums Überleben.
Aber die Rückkehr in den Osten kommt einem Todesurteil gleich, da die stalinistische Regierung diese Menschen als Verräter und Überläufer betrachtet- ein nicht enden wollender Lebenslauf der Folter und Entbehrung ohne jegliche Rechte.
Den Eltern gelingt es, durch eine Falschangabe auf ihren Papieren zu überleben. Ukrainern, die vor dem Krieg auf polnischem Territorium lebten, wird ein weiterer Aufenthalt in Deutschland gestattet. Aus Mariupol wird Cracow unter den amerikanischen Besatzern.
Deshalb wird Natascha in Fürth, Bayern geboren und wächst in Franken auf. Jedoch ändert sich mit diesem Bleiberecht nicht ihre soziale Situation.
Als staatenlose Menschen lebt die Familie jahrelang in dafür eingerichteten Lagern und Siedlungen- stigmatisiert und ausgeschlossen, von der deutschen Gesellschaft notversorgt und verachtet als Folge von Hitlers Propaganda der Untermenschen und dem Kriegsausgang.
Die Mutter zerbricht an diesem Leben und wählt den Freitod, als Natascha 10 Jahre alt ist.
Was bleibt nach dem Lesen dieses Buches? Für mich ein erschütternder Einblick in den Umgang mit Zwangsarbeitern auch nach Kriegsende, ein weiterer Zugang in die Geschichte des ukrainischen Volkes und ein winziger Hoffnungsschimmer, der die Familie in wenigen Momenten zusammenhält.
Natascha Wodin beschreibt es so:
„Das Einzige, was sie (die Mutter) für kurze Zeit aus ihrer Schwermut herausreißt, ist das Singen. Das Singen ist unser Gegenzauber, der vorübergehend die Gespenster vertreibt. Zu unserem Repertoire gehören nicht nur russische und ukrainische, sondern auch die deutschen Lieder, die ich in der Schule lerne und die auch meine Eltern lieben.
“ Abendstille überall“, „Wenn ich ein Vöglein wär“, „Dort in dem Schneegebirge“… Meistens singt meine Mutter mit ihrem hellen Sopran die erste Stimme, ich singe die zweite und mein Vater die dritte, er, der eigentlich Tenor ist, untermalt unseren Gesang mit seinen wortlosen Bassmodulationen, weil er im Gegensatz zu meiner Mutter die deutschen Texte nicht mitsingen kann. Mit seinem Bimbambom, das eine tiefe Glocke nachahmt, verleiht er den deutschen Liedern ein russisches Kolorit. Im Sommer versammeln sich oft Nachbarn unter unseren geöffneten Fenstern, sie hören zu und klatschen. Mit unseren Privatkonzerten versöhnen wir sie für eine Weile mit den Russen, so, wie wir selbst uns versöhnt und zusammengehörig fühlen, während wir singen.“