Tritonus, Roman (2020) von Kjell Westö
Thomas Brander ist Stardirigent. Sein Leben spielt sich in Konzertsälen und Hotelsuiten der großen europäischen Städte ab. Reich und beglückend, aber auch fordernd und erschöpfend.
Wie hält ein Mensch ein solches Leben durch? Die ständigen Reisen, den starken Erwartungsdruck, das strikte Zeitmanagement.
Wie hält ein Mensch ein solches Leben aus? Die penetrante Presse, den knallharten Konkurrenzkampf, das gnadenlose Gefühl älter zu werden und nicht mehr mithalten zu können mit den Jüngeren.
Thomas Brander kauft ein Grundstück im Schärengebiet. Baut seiner Sehnsucht nach Ruhe dort ein Haus. Und entkommt doch den Erinnerungen nicht, wie der an den Terroranschlag auf den Flughafen von Brüssel. Er hatte ihn hautnah miterlebt:
Wie Brander da so auf dem Holzplatz stand, sägte und hackte, dass ihm der Schweiß trotz der Kühle über den Rücken rann, überfielen ihn wieder die Erinnerungen. Diesmal waren es Bilder, die er seit Jahren zu vergessen suchte:
Morgen. Kurz vor acht. Er steigt aus dem Auto und will in das Flugplatzgebäude hineingehen. … Er hatte gedacht, dass jetzt ein Kaffee nicht schlecht wäre, es gab einen Starbucks neben dem Bag Drop von British Airways, dorthin würde er gehen – aber genau da kamen die Detonationen, erst eine und kurz danach noch eine, ohrenbetäubend und gewaltsam. Sie kamen von oben, er hörte das Geräusch von splitterndem Glas und von Körpern – Sachen und Menschen – die schwer fielen und dumpf oder krachend aufschlugen, dann begannen die Schreie dort oben, Rufe und Weinen, er hörte das Geräusch rennender Schritte und das scharfe Knirschen schuhbewehrter Füße, die über gesplittertes Glas eilten, und er meinte auch ein trockenes Knattern zu hören, dass wieder und wieder erscholl, und unsinnige militärische Rufe in verschiedenen Sprachen und dann kam der Geruch nach Rauch, fett und stechend auf einmal, und noch ein anderer Geruch, scharf und abscheulich, aber er wußte nicht, was das war. Auf der Null-Ebene rannten die Leute bereits auf die Ausgänge zu, ihre Koffer hinter sich, einige mit panikerfüllten Blicken, während die Augen anderer leer und kalt waren, nur noch auf das Überleben fixiert. Alle wussten, was das war, alt oder jung, Mann oder Frau, Anzugträger oder Hipster. Brander wusste es ebenfalls, und genau wie alle anderen machte er auf dem Absatz kehrt und rannte los. Er rannte zum nächsten Ausgang, einige schrieen und schluchzten, Brander schrie nicht, nun wußte er, wie er in einer Katastrophensituation reagierte, er gehörte zu den Stillen, er rannte nur, wie in einem Film, allein dass es jetzt so merkwürdig still war, die Schreie und das Jammern der Sterbenden und Verletzten waren nicht mehr zu hören, was er noch wahrnahm, waren nur noch die Anweisungen und zornigen Rufe der Wachleute und Polizisten, die über die Flure und Rolltreppen zwischen den verschiedenen Ebenen rannten. Und da war das Geräusch von Branders und der anderen Koffer, die rasselnden und schlagenden Räder, als er die Tasche hinter sich herzog, so schnell und ruckelig, dass die Tasche ab und an in die Luft hopste wie ein übermütiger Hund, und hinterher musste er einsehen, dass er nur an sich selbst gedacht hatte, gedacht, dass wenn er nun starb, über ihn verbreitet würde, der Dirigent Thomas Brander sei rennend zu Tode gekommen, gekleidet in einen maßgeschneiderten graphitgrauen Anzug und einen massiven Koffer in dunklem Purpur hinter sich herziehend. Dort auf der Auffahrtsrampe, in Panik vom Flugplatz fortrennend wie hunderte andere auch, lange bevor er die Information aufnahm, dass es drei Männer gewesen waren, von denen einer sich umgewandt, sich nicht in die Luft gesprengt hatte, und dass außerdem ein Attentat in einem Metro-Zug verübt worden war, hatte Brander gehofft, dass keiner der Terroristen mehr am Leben war oder dass sie zumindest nicht herumliefen und mit Kalschnikows oder Glock-Pistolen auf Menschen schossen, und wenn sie schon noch am Leben waren und mehr Leute töten wollten, so hoffte er, dass sie zumindest nicht auf gerade dieser Rampe auftauchen würden, und wenn sie das trotzdem täten, dass sie dann nicht gerade ihn niederschießen würden, sondern stattdessen andere, es schoss ihm durch den Kopf, dass er von Menschen gelesen hatte, die sich für andere opferten, von älteren Männern, die starben als sie ihre Frauen mit ihren Körpern schützten oder von Brüdern, die starben, als sie sich einem Terroristen entgegen warfen, der auf ihre Schwester zielte, aber Brander war einsam und mit sich selbst beschäftigt und war von Zvantem Hals über Kopf geflohen, erschrocken und mit flatternden Jackenschößen, das war eine gut geschnittene und sehr teure Jacke, und teuer war auch der Inhalt des Kleidersacks, den er verlor, während er rannte und es nicht schaffte, ihn noch aufzuheben, er wagte es nicht stehen zu bleiben, der Frack und der Reserveanzug waren der Preis, den er bezahlte, während er davor floh, dass ihm wirklich das passierte, gerade ihm, er war an einen dieser Plätze geraten mit verzerrten Feuerbällen und Rauch und Blutlachen, mit verwackelten Filmen, aufgenommen von einem Mobiltelefon und gleich hochgeladen, er war dorthin geraten, tatsächlich da hineingeraten, wo man stechenden Rauch roch und Todesschreie hörte und Angst hatte vor dem, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartete, vielleicht eine Kugel, gerissen berechnet auf maximale Zerstörungswirkung, die mit einem Plopp, einem überraschend leisen Plopp, einschlagen würde in Thomas Branders Fleisch, genauso weich und wehrlos wie das aller anderen, obwohl er doch bekannt war für seine starken Interpretationen von Sibelius, Mahler und Ligeti.
Leseprobe
Das Grundstück im Schärengarten grenzt an den Hof von Reidar Lindell, Schulkurator und Lokalpolitiker. Lindell ist Witwer seit einiger Zeit, noch ganz gefangen in seiner Trauer.
Wie hält ein Mensch das aus, dass jeder Morgen ein einsames Erwachen bringt und jeder Abend voller Sehnsucht nach der geliebten Frau zu Ende geht!
Wie hält ein Mensch das durch, alleine in einem Haus zu leben, das er für eine Familie gebaut hat. In dem jedes Bild, jede Wandfarbe, jeder Stuhl an einen Menschen erinnert, dem das einmal lieb gewesen ist!
Lindell dachte, dass es Sommer gäbe, die niemals enden wollten, und Sommer, die niemals begannen. Dieser hier hatte zu den ersteren gehört. Mild war er gewesen, schon seit Mai, kühl und gemäßigt während des Hochsommers. Und dann blieb er warm und freundlich den ganzen September hindurch. Erst in den letzten Wochen waren Nachtkühle und scharfe Winde aufgekommen. In Madeleines letztem Sommer war es die ganze Zeit hindurch schneidend windig gewesen. Und doch hatte er begonnen, wie Sommer hier oben immer beginnen: damit, dass bleiche, aber hoffnungsvolle Nordländer ihre Gartenmöbel aus dem Schuppen tragen und Säcke mit angereicherter Humuserde kaufen. Und Sonnenliegen kaufen, zwei Stück, mit farbenfrohen Auflagen dazu. Einige finstere Fichten fällen, um mehr Sonne auf dem offenen Platz vor dem Haus zu haben. Streichen das Holzboot mit Firnis und versiegeln Risse im Glasfiber des Ruderbootes, kaufen fünfzig Meter Kevlar-Seil und drehen neue Taue daraus, mähen optimistisch noch einmal mit der Sense das Schilf und streichen die Wände des Plumpsklos hellblau, um die Fliegen fernzuhalten. Kaufen eine neue Tischdecke für den großen Tisch – den, der eigentlich nur zu Mittsommer und zum Krebsessen benutzt wird – ein buntes Tuch mit Mittelmeermotiv, Zitronen und Sonnenblumen und Olivenbäume vor einem tiefblauen Hintergrund. Aber dann kommt der Sommer nicht. Keine Sonne und kaum mal ein bisschen Wärme. Nur eine Diagnose, kurz und schonungslos. Dunkler Himmel und nördliche Winde, störrig und schnöde, und das Gefühl, dass alles vorbei ist, ehe es recht angefangen hat. Genau so einer war Madeleines letzter Sommer, kalt und grau wie eine Hausaufgabenkontrolle, ein Nachsitzen. Und schon im September war sie nicht mehr.
Lindell zwang die Erinnerung beiseite, dachte statt dessen an die Probe heute Abend.
Leseprobe
Zwei sehr ungleiche Menschen auf einer Schäreninsel – dort, wo man in einem Boot sitzt, selbst wenn das Boot leckt.
Kjell Westö erzählt einfühlsam von einer entstehenden Freundschaft zwischen zwei Männern, die je für sich nicht viel Begabung zur Freundschaft mitbringen. Geduldig und einfühlsam begleitet der Roman den renommierten Berufsmusiker Brander und den engagierten Hobbymusiker Lindell. Musik ist die Brücke, über die beide beginnen, einander zu verstehen und sich gegenseitig an ihrem Leben Anteil zu geben (so verschlossen sie sonst auch sein mögen).
Eingebettet ist dieses sensibel gezeichnete Doppelportrait in die Schilderung einer Schärengartenkommune: Die Schönheit der Landschaft, die Herbe ihrer Bewohner, die Schatten der Pandemie und der gemeinsame Wille, ihr zum Trotz das Leben im Schärengarten lebens- und liebenswert zu erhalten – all das fügt sich zu einem Mikrokosmos von anrührender Intensität.
„Tritonus“ – das Wort steht für eine Disharmonie, die nicht auszuhalten ist, die auf jeden Fall aufgelöst werden muss. Dass sie aufgelöst werden kann, ist die Hoffnung, mit der Kjell Westös Roman seine Leserinnen und Leser entlässt. Seit ich nach der letzten Seite dieses Buch zugeschlagen habe, begleiten mich Thomas Brander und Reidar Lindell. Ich denke ihre Geschichte weiter – und genau in diesem Weiterdenken wird aus der Wahrnehmung von Dissonanz und der Sehnsucht nach Symphonie eine Kraft wach, die ich in dieser zerrissenen Zeit so sehr brauche.
Für mich ist Tritonus das schönste unter den allesamt eindrucksvollen Büchern von Kjell Westö.
Kjell Westö: Tritonus. En Skärgårdsberättelse. Förlaget, Helsingfors, 2020. ISBN 978-952-333-291-1 Übersetzungen der Leseproben: HCB
Hans-Christian Beutel