Am 30. Juni 1522 stirbt in Stuttgart Johannes Reuchlin – seine Bedeutung für Luthers Bibelübersetzung ist immens gewesen.
Am Morgen des 29. Mai 1453 dringen die Truppen des osmanischen Sultans und fanatischen Glaubenskriegers Mehmed II. in die Stadt Konstantinopel ein. Wochenlang hatte die Stadt der Belagerung standgehalten – nun aber wird „der Sieg im Namen Allahs“ amtlich vom obersten Imam verkündet, von der Kanzel der alt-ehrwürdigen Kirche der Hagia Sophia herab! Das byzantinische Reich war nunmehr Geschichte.
Eine Flucht setzt ein, die christliche Gelehrte aus dem griechischen Osten in den lateinischen Westen treibt. Sie bringen das mit, was ihnen das Wichtigste ist: griechische und hebräische Handschriften der biblischen Bücher. Und die verbreiten sich – begünstigt durch den gerade aufkommenden Buchdruck – in Westeuropa.
Knapp zwei Jahre nach dem Fall und der Plünderung Konstantinopels wird in Süddeutschland Johannes Reuchlin geboren. Die Handschriften, die mit der Fluchtwelle nach Deutschland kommen, werden ihm zum Lebensinhalt. Ungewöhnlich sprachbegabt nimmt er im Alter von 15 Jahren das Studium der Grammatik, Philosophie und Rhetorik in Freiburg auf. Nicht untypisch für einen angehenden Juristen, zu dem er ausgebildet wird. 1484 jedoch hört er in Tübingen Hebräischvorlesungen bei einem sizilianischen Gelehrten, dem vom Judentum zum Christentum konvertierten Flavius Mithridates. Und damit hat er sein Lebensthema gefunden.
Ja, er wird wie vorgesehen Jurist. Und ja, er arbeitet als Diplomat im Dienst seines Landesherren. Aber er findet daneben immer die Zeit, sich in die hebräische Sprache zu vertiefen, nach hebräischen Schriften zu suchen und die Geheimnisse dieser faszinierenden Sprache zu erforschen: „Warum gibt es im Alten Testament so unterschiedliche Namen und Bezeichnungen für Gott?“ ist z.B. eine der Fragen, die ihn nicht loslassen. 1488 erhält er eine hebräische Bibel als Geschenk – ein Exemplar der allerersten Druckausgabe des hebräischen Bibeltextes. Welch ein Schatz!
Johannes Reuchlin versucht, den Text zu verstehen – er hat weder ein Wörterbuch noch eine Grammatik zur Verfügung. Beides erarbeitet er sich – auch im Gespräch mit Juden, die er um Rat und Hilfe fragt. Die Ratschläge, Hinweise und Informationen, die sie ihm geben, stellt Reuchlin zusammen, systematisiert sie und gibt 1506 sie als Buch heraus: De rudimentis hebraicis (Über die Grundlagen des Hebräischen). Damit ist die moderne Wissenschaft der Hebraistik begründet.
Kaum ist das Werk mit seinen über 600 Seiten erschienen, nutzt Martin Luther es, um seine Hebräisch-Kenntnisse zu vertiefen. Es wird ihm zu einer unentbehrlichen Hilfe bei seiner Übersetzung des Alten Testamentes.
Johann Wolfgang von Goethe wird später voller Bewunderung schreiben:
„Reuchlin! Wer will sich mit ihm vergleichen,
zu seiner Zeit ein Wunderzeichen.“
Aber das liest sich jetzt etwas zu glatt und wir müssen noch einmal einen Schritt zurücktreten. Die Zeit, in der Johannes Reuchlin und Martin Luther sich in den Text des Alten Testamentes vertiefen, ist erfüllt von antijüdischen Ressentiments. Seit Jahrzehnten hatten Juristen der Kurie in Rom darauf hingearbeitet, Christen und Juden zu trennen. Ein zwangloser Umgang miteinander sollte unterbunden werden. Dazu diente die diskriminierende Kennzeichnung von Juden: spitzer Hut, gelber Kreis an der Kleidung, Judenbart. In Augsburg 1434 vom Stadtrat angeordnet, in Nürnberg und Bamberg 1451, in Frankfurt am Main 1452. So stehen die Zeichen der Zeit: gegen die Juden. Heinrich Heine schreibt rückblickend „… da hätte man gern auch die jüdische Tradition unterdrückt, und man ging damit um, alle hebräischen Bücher zu vernichten, und am Rhein begann die Bücherverfolgung, wogegen unser vortrefflicher Doktor Reuchlin so glorreich gekämpft hat. … Es galt die Unterdrückung der hebräischen Sprache. Als Reuchlin siegte, konnte Luther sein Werk beginnen.“
Johannes Reuchlin setzt sich gegen diese Tendenzen ein – mit einigem Erfolg (ausgezeichneter Jurist und Diplomat, der er war). Er erreicht in den humanistisch gebildeten Kreisen Respekt und Achtung für die hebräischen Schriften. Kaiser Maximilian muss im November 1509 eine Verfügung zurücknehmen, mit der er im August desselben Jahres die Vernichtung der hebräischen Schriften angeordnet hatte. Und bis zu seinem Lebensende am 30. Juni 1522 bleibt Johannes Reuchlin konsequent bei seinem Einsatz gegen die Ausgrenzung von Juden und für die Pflege hebräischen Schrifttums.
Eine Zeit lang wird Martin Luther ihm darin folgen. Im kommenden Jahr werden wir uns in dieser Reihe mit seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ beschäftigen (erschienen im Mai 1523). Dass Martin Luther anders als Johannes Reuchlin diese Haltung nicht durchhalten und sich gegen Ende seines Lebens zu antijüdischen Pamphleten hinreißen lassen wird, gehört zur tragischen Seite seines Lebens.
„Angesichts der Bücherverbrennung der Nazis und der bleibenden Wunde des Holocausts, wächst für die Nachlebenden dem von Reuchlin geführten Streit um Judenrechte eine besonders kostbare Bedeutung zu, scheint doch bei diesem Gelehrten die rare historische Alternative zur Ideologie des Antijudaismus auf.“ So schreibt der Tübinger Historiker Sönke Lorenz.
Dieser raren historischen Alternative zu Antijudaismus und – nennen wir es ruhig beim Wort – Antisemitismus, verdanken wir viel für unseren Zugang zum Alten Testament. Gut wenn uns das beim Lesen der schönen Luther-Übersetzung der Psalmen, der Propheten, der Vätergeschichten und der Klagen Hiobs bewußt bleibt.
Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi