Reformation 2022-09-24

Zwei-Reiche-Lehre?

von Hans–Christian Beutel

Am 21. September 1522 war Luthers „Septembertestament“ erschienen – diese geniale Übertragung des Neuen Testamentes in ein gut verständliches Deutsch. Doch Luther beschäftigte an diesem Tag ein ganz anderes Thema: In einem Brief an den Bamberger Ratsherrn Johann von Schwarzenberg stellt er Überlegungen an zu der Frage, wie denn die Ordnungsgewalt weltlicher Herrscher mit dem Evangelium in Übereinstimmung gebracht werden könne. Kein leichtes Thema! Luther kommt damit zu keinem Abschluss und so kann er nur versprechen, er werde dazu demnächst ein Büchlein schreiben. Das Thema ist denn auch zu groß für einen Brief.

Wie passen Politik und Evangelium zusammen? Schon seit der Zeit auf der Wartburg hatte Luther darüber nachgedacht. Damals waren es problematische Äußerungen von Andreas Karlstadt, dem Hitzkopf, gewesen, gegen die Luther sich abgrenzen musste. Nun war es der Bamberger Rat von Schwarzenberg, dessen Gedanken Luther nicht zustimmen konnte. Luther grübelt. Natürlich schaut er in die theologische Tradition – als langjährigem Augustinermönch kommt ihm natürlich die Konzeption des Kirchenvaters Augustin von Hippo in den Sinn – der unterscheidet zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt (von dem er nicht viel hält – „Reich des Teufels“). Wie hilfreich ist das für einen Stadtrat oder einen Fürsten, der als Christ regieren und politisch verantwortlich handeln soll?! 

Über diesem Grübeln wird es Oktober. Luther hat am 24. und 25.10.1522 in Weimar zu predigen. In der Schlosskirche. Vor dem Herzog Johann. Was soll er sagen?

Wir leben ja in einer Situation, in der nicht alle Menschen glauben – so überlegt Luther. Da ist es die Aufgabe der Regierenden, Leben zu schützen und Frieden zu bewahren. Dafür haben sie ein Mandat von Gott – sie stehen „mit dem Schwert“ (also mit politischen Druckmitteln) dafür ein, dass das Gemeinwohl nicht „den Bösen“ zum Opfer fällt, die Welt also nicht „zum Teufel geht“. Das ist die eine Weise zu regieren. Die andere ist die Überzeugungskraft des Evangeliums. Wer dem glaubt, der wird „das Gute“ wollen und mit der Schwertgewalt nicht in Konflikt kommen. Das ist die andere Weise zu regieren. 

Diese beiden „Regierweisen“ (bzw. „Regimente“) Gottes unterscheidet Luther. Und so nimmt er als Ausgangspunkt für seine Predigten in Weimar das Wort Jesu: „Bekehrt und bessert euch, denn das Reich Gottes ist nahe.“

In der ersten Predigt vom 24.10. spricht Luther davon, wie Christus die Gläubigen zu den guten Werken der Nächstenliebe motiviert. In diesem Regiment Christi ist die weltliche Obrigkeit eigentlich überflüssig. 

In der zweiten Predigt vom 25.10. muss Luther nun aber klar machen, welche Aufgabe die weltliche Obrigkeit dennoch hat. Es ist nicht die Aufgabe der Prediger, Menschen abzustrafen, die sich dem Ruf Christi zur Nächstenliebe verschließen und Böses tun. Prediger sollen Verfolgung wegen ihrer Verkündigung im Geist Christi erdulden, sich aber aller Gewalt enthalten. Die wahrzunehmen ist Aufgabe der Obrigkeit. Sie hat das Straf- und Schutzamt inne. Und sie nimmt es als Dienst am Nächsten wahr. Der Fürst, der diese Schwertgewalt ausüben muss, bedarf des Augenmaßes, der Rechtlichkeit und eines demütigen Gottvertrauens. In die Regierweise des Evangeliums darf er aber niemals übergreifen.

Hier haben wir den Kern dessen vor Augen, was Luther später zu einer „Zwei-Regimenten-Konstruktion“ ausbauen wird: die Grundlage seiner politischen Ethik. Er beschreibt ein Spannungsfeld: Würde die Welt allein mit dem Evangelium regiert, dann führt das wahrscheinlich in’s Chaos. Würde die Welt aber nur mit der Schwertgewalt regiert, dann erreicht man damit vielleicht Ordnung, aber nicht wirklich Gerechtigkeit. Beide Regierweisen (oder „Regimente“) bleiben aufeinander bezogen und angewiesen.    

Luther baut diese Gedanken in den folgenden Jahren aus. Und er ist stolz auf seine Konstruktion, „denn“ – so schreibt er 1526 – „ich mich schier rühmen möchte, dass seit der Apostel Zeit das weltliche Schwert und Obrigkeit nie so klärlich beschrieben und herrlich gepreiset ist, wie auch meine Feind müssen bekennen, als durch mich.“

Luther baut diese Gedanken aus, aber er entwickelt nie eine „Zwei-Reiche-Lehre“. Das tun erst spätere Generationen in seinem Namen. Und sie verkennen dabei, wie situationsbezogen Luthers Gedanken sind. Luther beschreibt ein Spannungsfeld, in dem er aktuelle Problemstellungen durchdenkt. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ dagegen löst dieses Spannungsfeld auf, indem sie die beiden Spannungspole trennt und voneinander abgrenzt. Wie problematisch diese Entwicklung ist, wird in der Zeit des Nationalsozialismus deutlich, in der Theologen wie Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer zwischen Zwei-Reiche-Lehre und Drittem Reich ihren Weg in den Widerstand finden mussten.1

Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi

1 Das wird uns im kommenden Frühjahr beschäftigen, wenn sich die Verhaftung Dietrich Bonhoeffers am 5. April 1943 zum 80. Mal jährt - seine Briefe aus der Haft, gesammelt unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ werden Thema eines Vortrags sein, den die Gemeindegruppen und Finnisch-Deutsche Vereine im Land buchen können.
Leave a comment

*

*