Impulse, Reformation 2021-10-29

“Die Kirche macht nicht das Wort, sondern sie wird von dem Wort.”

von Hans–Christian Beutel

Luther im November 1521

Sie waren nicht gut, die Nachrichten, die im Spätherbst 1521 aus Wittenberg auf der Wartburg eintrafen: Dort spitzten sich die Auseinandersetzungen um die Feier des Gottesdienstes immer mehr zu. Philipp Melanchthon fühlte sich überfordert und hielt sich zurück; Andreas Karlstadt fühlte sich getrieben und preschte voran. Worum ging es da?

Um zwei Probleme hauptsächlich:

Einerseits war die Liturgie des Gottesdienstes ja noch ganz stark geprägt von mittelalterlich katholischem Denken. Besonders die Gebete beim Abendmahl legten das Missverständnis nahe, dass der Priester am Altar ein Opfer darbringt, durch das er Gott zu bewegen sucht, sich seiner Gläubigen gnädig anzunehmen. 

Andererseits wurde das Abendmahl auch dann gefeiert, wenn gar keine Gemeinde da war, die daran hätte teilnehmen können. Über Jahrhunderte hatte sich die Praxis herausgebildet, dass Messen für wirksam gehalten wurden, auch wenn der Priester allein dabei war. So konnte man z.B. Messen für Verstorbene stiften (oder sollte man besser sagen: kaufen), von denen man sich eine Verkürzung ihrer Strafen im Fegefeuer erhoffte.

Andreas Karlstadt, Luthers Kollege an der Wittenberger Universität, legte radikale Thesen vor und kündigte an, das Abendmahl zukünftig in einer neuen, reformierten Weise feiern zu wollen. Nun ist es wichtig, sich einen Moment mit diesem Menschen Andreas Bodenstein von Karlstadt zu beschäftigen. Ein belesener und gut ausgebildeter Theologe, gründlich in seiner Arbeit und vorsichtig in seinem Urteil, ein Mensch tiefer Frömmigkeit und innerer Redlichkeit. Bis sich ihre Wege Ende 1521 trennen hat Luther mit seinem Kollegen Karlstadt eng zusammengearbeitet und von ihm viel gelernt. Aber Andreas Karlstadt ist – im Gegensatz zu Luther – ein langsamer Denker, eben ein Mensch mit einem tiefen Bedürfnis nach gründlicher und genau durchdachter Erkenntnis. Ein Mensch, der nicht gut unter Druck arbeiten kann. Nun aber steht Karlstadt unter erheblichem Druck – er steht (wohin er seinem Wesen nach nicht gehört) in der ersten Reihe der Wittenberger Reformation – Philipp Melanchthon hält sich zurück und Martin Luther ist weit weg auf der Wartburg. Und so erhalten Karlstadts Aktionen und Flugschriften in dieser Zeit etwas Gehetztes, Unausgewogenes, Übertriebenes, ja, manchmal sogar Maßloses. So ließ er nicht nur verlauten, dass er zu Neujahr bei der Abendmahlsfeier Brot und Wein austeilen wolle, sondern er setzte hinzu, dass jeder Christ, der (dem katholischen Brauch entsprechend) beim Abendmahl nur das Brot empfange, begehe damit eine Sünde.

Martin Luther sieht in dieser These Täter und Opfer verwechselt – wem jahrzehntelang der Kelch beim Abendmahl vorenthalten wurde, der soll nun ein Sünder sein, weil er nur das Brot zu sich nimmt? Luther sieht sich als Seelsorger gefordert und schreibt eine Abhandlung „Vom Mißbrauch der Messe.“

Luther ist – ganz im Gegensatz zu Karlstadt – ein schneller Denker, einer der unter Druck am produktivsten ist. Seine Schriften sind eher intuitionsstark als genau durchreflektiert. In seinem theologischen Urteil ist Luther entschieden, ja radikal. Aber in der Umsetzung in die Praxis ist er erstaunlich geduldig und bereit, sich auf langsame und stetige Entwicklungsprozesse einzulassen. 

Und solch ein Prozess beginnt für ihn im November 1521.

Luther war in den zurückliegenden Wochen klar geworden, dass es bei der Gestaltung der Messfeier nicht um eine Frage unter anderen ging. Der Gottesdienst war vielmehr ein Kernproblem der Reformation der Kirche.

Und mit großer Achtung vor dem Geist der Liturgie arbeitet Luther langsam und beharrlich auf eine entscheidende Veränderung zu: die mittelalterlich katholische Frömmigkeit hat im Gottesdienst ein Werk gesehen, das der Mensch tut, um Gott für sich einzunehmen, sich Gott gewogen zu machen, im Klartext: Gott zu manipulieren. Und Luther ist sich völlig im Klaren darüber, dass sich etwas, das tief in der Frömmigkeit der Menschen verankert ist, nicht von einem auf den anderen Tag ändern lässt. Das ist es, was Karstadt übersieht: Als ihm bei der ersten reformierten Abendmahlsfeier Weihnachten 1521 zwei Oblaten herunterfallen, eine auf den Mantel eines Gemeindegliedes und eine auf den Boden, fordert er die Leute dazu auf, sie anzufassen und aufzuheben – undenkbar für die, die Jahrzehnte in dem Glauben gelebt hatten, dass nur der geweihte Priester die Hostie mit seiner Hand berühren darf. 

Luther beginnt also mit behutsamen Veränderungen und er wird die nächsten 23 Jahre damit beschäftigt bleiben, der Frömmigkeit der Menschen einen entscheidenden Satz zugänglich zu machen: Gott und Mensch verkehren nicht im Werk, sondern im Wort miteinander. Die Kommunikation zwischen Gott und Mensch beruht auf dem Gespräch, nicht auf der Aktion. Gott redet mit uns und seine Anrede bewirkt in uns die Antwort des Glaubens. 

Klar, dass dies nicht funktionierten kann, wenn kein Mensch die Messe hört. Die Privatmessen ohne Gemeinde sind also obsolet. Und ebenso klar, dass dies auch die Gestaltung des Abendmahles grundlegend verändert. Es wird zur Annahme einer Einladung, die Gott zuvor ausgesprochen hat – Gottes Hingabe in Jesus Christus beantwortet der Mensch, in dem er sich Gottes Heil hingibt. 

Die Kommunikation zwischen Gott und Mensch beruht auf dem Wort. Und tatsächlich auf dem gesprochenen Wort. Dem Wort, das nicht nur Information ist, sondern Beziehung. Dem Wort, das auf Verstehen und Verständigung ausgerichtet ist. Dem Wort, dass den Menschen wirklich als Person mit Verstand, Herz und allen Sinnen erreicht. Dem Wort, das Heil vermittelt und Heil erfahrbar macht. Dem Wort, das Glauben weckt. 

23 Jahre wird Martin Luther damit beschäftigt bleiben, der Gemeinde dieses Vertrauen in das Wort zu vermitteln. 1544 hält er eine Predigt bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche. Ein Satz daraus ist klassisch geworden für das Gottesdienstverständnis der lutherischen Kirchen – Luther gelingt eine so kurze wie prägnante Zusammenfassung der Kommunikation von Gott und uns Menschen: „Es soll dies Haus dahin gerichtet sein, dass nicht anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“. 

Hans-Christian Beutel

Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi

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