Reformation 2020-06-14

„Die Zeit des Redens ist gekommen.“

von Hans–Christian Beutel

Luther und das Reformationsjahr 1520… vor drei Jahren haben wir das Reformationsjahr 2017 gefeiert — in Erinnerung an den Thesenanschlag Martin Luthers. Wie lang liegt das zurück! Drei Jahre können richtig lang sein! Zumal, wenn jemand voller Ungeduld wartet! 1517 bis 1520 sind für Martin Luther eine quälend lange Wartezeit gewesen. Denn nach dem Thesenanschlag passierte erst einmal: Nichts! Oder wenn überhaupt etwas passierte, dann war das Geplänkel um seine revolutionierenden Thesen. Die Reformation ging einfach nicht los. Sie drohte zu versanden. Das lag nicht an Luther. Der hatte Sprengstoff geliefert. Aber der Papst stand auf der Lunte.

Das hatte wahltaktische Gründe: Kaiser Maximilian I. war gestorben. Einen Nachfolger hatte er bestimmt: Karl von Spanien. Der war gleichzeitig auch König von Sizilien. Für den Papst keine gute Vorstellung, dass ein weltlicher Herrscher den Kirchenstaat quasi in die Zange nehmen konnte. Einfluss auf die Wahl konnte der Papst aber nur über die Kurfürsten nehmen — und einer davon war Friedrich der Weise, Luthers Landesfürst. Den durfte man also nicht verärgern, indem man zu hart gegen einen Professor der Wittenberger Universität (Friedrichs Prestige–Projekt) vorging.

Im Sommer 1519 aber war die Wahl vollzogen und der Weg frei, sich nun mit diesem Luther da zu beschäftigen, diesem Mönchlein mit seinen akademischen Thesen. Nur: aus dem war in der Zwischenzeit ein veritabler Volksschriftsteller geworden! Mit seinen deutschsprachigen Schriften hatte er eine zweite Lunte zum Pulverfass der Reformation gelegt. Die konnte der Papst jetzt nicht mehr austreten. 1520 kam es zur eigentlichen Explosion. Luther war inzwischen klar geworden: seine Reformvorschläge rühren so an die Substanz der römischen Kirche, dass ein gesteuerter Reformprozess nicht zu erwarten war. Eher drohte ihm ein Ketzerprozess, wie Jan Hus ihn erlebt hatte: der war hundert Jahre zuvor auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Das war Luthers Perspektive: „Vermutlich habe ich nicht mehr lange zu leben. Jetzt oder nie! Die Zeit des Redens ist gekommen!“

Und so schreibt er 1520 in kurzer Folge seine wichtigsten Schriften. In einem wahren Schreibrausch bringt er zu Papier, was er zu sagen hat und was ihn überdauern soll, wenn sein Leben auf dem Scheiterhaufen enden sollte.

1520 ist das eigentliche Reformationsjahr. In diesem Jahr hat Martin Luther das formuliert, was als bleibendes reformatorisches Erbe die Geschichte geprägt hat.

Das Frühjahr 1520 hindurch schreibt Luther an seiner Ethik: „Von den guten Werken“. Und er ist begeistert von seinem Werk! „Wenn es so fortschreitet, wird es wohl mein allerbestes Buch“, schreibt er am 25. März an Georg Spalatin, den Sekretär Friedrich des Weisen. Ein bißchen unbescheiden, aber durchaus zutreffend (jedenfalls für den Moment — Luther wird Ende des Jahres 1520 sein wirklich allerbestes Buch schreiben).

Luther hatte immer wieder zu hören bekommen: „Deine Theologie wird zum Sittenverfall führen. Denn wenn der Mensch nichts dazu tun kann, vor Gott gerecht zu werden, dann wird er sich auch nicht mehr anstrengen, seinen Mitmenschen gerecht zu werden.“ — „Da ist was dran!“, sagt Luther. Darum schreibt er dieses Buch — die erste evangelische Ethik.

Dem Glauben wohnt ein Trieb zum sittlichen Handeln inne, sagt Luther. Wer an Gott glaubt, hat schlicht das Bedürfnis, zugunsten seines Nächsten zu handeln. Indifferenz gegenüber dem Nächsten ist quasi ein Zeichen für einen erlahmenden Glauben.

Nun gibt es verschiedene Gruppen von Menschen:

  • Zunächst sind da die wirklich gläubigen Christen. Die tun Gute, einfach weil es das Gute ist. Die brauchen keine Vorschriften, weil ihre innere moralische Kompass–Nadel untrüglich in die richtige Richtung weist. Nur: Davon gibt’s nicht so sehr viele — leider!
  • Dann gibt es die faulen Christen. Die tun das Gute nicht, weil es lästig wäre, gut zu handeln. Die evangelische Freiheit ist eine bequeme Ausrede — und die innere moralische Kompass–Nadel lässt sich damit auch ganz gut in die passende Richtung lenken. Von diesen Christen gibt’s eine ganze Menge — leider!
  • Dann gibt es noch die wirklich bösen Menschen. Die sich entschieden haben, böse zu sein. Die die innere moralische Kompass–Nadel ignorieren, weil ihnen das genau berechenbare Vorteile verschafft. Mag sein, dass das letztlich gar nicht so viele sind. Aber die prägen stark die gesellschaftliche Atmosphäre — leider!
  • Schließlich gibt es dann noch die naiven Menschen, die beeinflussbaren. Deren innere moralische Kompass–Nadel trudelt und ist ablenkbar. Von denen gibt es viele. Aber die lassen sich beeinflussen. Die reagieren zum Beispiel auf kirchliche Zeremonien und seelsorgerliche Begleitung — zum Glück!

Diese Gruppen leben nun zusammen in einem Gemeinwesen. Eine evangelische Ethik muss diese Gruppen im Blick behalten — ihnen jeweils auf ihre Problemlage zugeschnitten das Evangelium zusprechen und sie zu einem guten Zusammenleben führen:

  • die erste Gruppe braucht Bestärkung;
  • die zweite Gruppe braucht Motivation;
  • die dritte Gruppe braucht klare Grenzen;
  • die vierte Gruppe braucht behutsame und verantwortungsvolle Führung.

Ein hoch idealistisches und dennoch realistisches Programm, das Luther da anhand der 10 Gebote aufstellt: der vertrauende Glaube, der allein Gott die Ehre gibt, ist die Grundlage der christlichen Existenz. Aus diesem Glauben nur kann und soll dann auch ein sittliches Handeln folgen.

Luther trägt diesen Gedanken in einer mitreißenden Sprache vor: klar und sicher, voller Vertrauen in die Wahrheit des Evangeliums und die Kraft des Glaubens. Dieses Vertrauen gibt seinem Stil etwas wohltuend entspanntes. Einerseits kann Luther endlich den professoralen Duktus ablegen und seiner Feder freien Lauf lassen. Andererseits hat der römische Prozeß noch nicht begonnen und Luthers Stil ist noch frei von der anstrengenden Polemik, die spätere Werke dann prägend wird.

Anfang Juni 1520 kam das Buch aus der Druckerei und fand reißenden Absatz. Aber da war Luther schon mit einem ganz anderen Werk beschäftigt.

‚An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung‘ erscheint im August 1520. Und jetzt ist sie endgültig da, die große Explosion! Die brennende Lunte hat das Pulverfass erreicht! Luther beschreibt, wie das Selbsterhaltungsinteresse der Institution Kirche den Glauben korrumpiert hat:

  • der Glaube, dass Christus der Herr der Kirche ist und für seine Kirche denn auch sorgen wird, geht verloren;
  • statt dessen meinen diejenigen, die ein Leitungsamt in der Kirche wahrzunehmen haben, dass sie für den Bestand der Kirche zu sorgen hätten.
  • Sie bauen also Mauern um die Kirche, um sie vor allerlei Gefahren für ihren Bestand zu schützen.
  • Diese Mauern beengen die Kirche aber und beschneiden sie in ihren Entwicklungsmöglichkeiten.
  • Die Kirche will und soll sich aber entwickeln und droht die Mauern zu sprengen.
  • Dagegen bauen die kirchenleitenden Herren dann immer stärkere Mauern, indem sie die Lehre der Kirche so umformen, dass sie Leben und Entfaltungswillen immer stärker reglementiert und beschneidet.

Das ist im Grunde tragisch! Das ist ein grundtragisches Missverständnis!

Anfrage an den Sender Eriwan: „Kann eine Kirchenleitung Kirche leiten?“ — Antwort: „Im Prinzip ja, aber kann ein Zitronenfalter Zitronen falten?“

Die Kirche kann nur Christus leiten. Wo Menschen meinen, das an seiner Stelle tun zu sollen, fallen sie Christus ins Werk und verderben es.

Luthers glasklare Analyse ist: Die Papstkirche hat die kirchlichen Sakramente zur Reglementierung und Beschneidung der Kirche benutzt und mißbraucht. Sie hat zwischen Christus und seiner Kirche eine Amtsebene eingezogen, die sich inzwischen zu einer Priesterkaste verselbständigt hat. Die lebendige Kommunikation zwischen Christus und seinen Gläubigen wird erstickt, indem sie nur noch durch Priester vermittelt stattfinden kann.

Dagegen formuliert Luther seinen hinreißenden Grundsatz vom „Priestertum aller Getauften“. Die Vision einer von Laien getragenen Kirchenreform. Die Vision eines von Laien gestalteten Gemeindelebens, in dem Christus wieder hörbar, spürbar, erlebbar wird. Die Vision eines sakramentalen Geschehens, in dem Christus und seine Gläubigen wieder miteinander kommunizieren.

Da wird eine Dynamik frei, die atomare Sprengkraft hat! Und es ist im Grunde wiederum tragisch, dass Luther diese Dynamik meint kanalisieren zu müssen. „An den christlichen Adel deutscher Nation“ ist ein Aufruf an die Landesherren, die Kirchenleitung zu übernehmen. Luther legt das intellektuelle Fundament für die Entstehung der evangelischen Landeskirchen mit ihren kirchenleitenden Konsistorien. (Aber so besonders geschickt im Zitronenfalten waren die dann eigentlich auch nicht.)

Die „Adelsschrift“ ist das eigentliche Reformationsprogramm und in dieser Hinsicht Luther wirkungsreichstes Buch. Früher und umfassender als alle anderen Reformprogramme bringt Luther hier auf den Punkt, worauf es bei der Um- und Neugestaltung der Institution Kirche ankommt.

Noch zwei große Schriften Luthers erscheinen im Herbst 1520 — darunter sein wirklich allerbestes Buch: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Aber dazu demnächst mehr.

✏︎ Hans–Christian Beutel

■ Bildquelle: Martin Luther als Augustinereremit (Lucas Cranach d. Ä., 1520, Museum of Fine Arts, Houston); gemeinfrei /Wikipediaartikel: ‚An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung‘

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