Es ist still geworden um den Begriff der Seele. Selbst die Wissenschaft, die ihren Namen trägt, die Psychologie (psyché – griechisch.: Seele), benutzt den Begriff nicht mehr. Was ist das eigentlich, die Seele? Was meinen wir, wenn wir von Seelsorge sprechen?
Bei aller Unsicherheit: Da gibt es etwas zu entdecken, ein vergessenes Wort wieder mit Leben zu füllen. Und diesen Versuch unternimmt Johanna Haberer – eine „Reanimation“ im wahrsten Wortsinn (anima – lateinisch.: Seele).
Johanna Haberer ist Professorin für Theologie und Medienethik in Erlangen. In ihr Fachgebiet fällt auch die Frage, wie moderne Medien unser Selbstempfinden und unsere Selbstwahrnehmung prägen. Sie schreibt:
»Wir erleben derzeit, dass sich die computergesteuerte Um- und Mitwelt eine eigene Sprache schafft mit Metaphern, die der Welt der Softwareprogrammierung entnommen ist. So haben wir „etwas auf dem Schirm“, anstatt wie früher etwas zu versprechen oder an jemanden zu denken. Nicht mehr die Vergegenwärtigung von Menschen oder Dingen vor dem inneren Auge wird also beschrieben, vielmehr wird das Gedenken und Erinnern nach außen verlagert und wir haben Subjekte an die wir denken wollen, „auf dem (Bild-)Schirm“.
Wir „canceln“ Verabredungen und sagen sie nicht mehr ab. Wir „speichern“ etwas, anstatt uns zu erinnern, wir „updaten“ uns, wo wir vormals Neuigkeiten austauschten und wir machen keinen Neuanfang, sondern ein „Reset“. Zunehmend übernehmen wir die Computersprache, wenn wir erinnern, vergessen, „escapen“ oder versuchen, etwas ungeschehen zu machen („delete“). Wir vertrauen unsere Gedanken nicht mehr dem Himmel an, sondern der „Cloud“ und versammeln uns nicht in Gemeinden, sondern in „Netz-Communities“.«
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In dieser Sprache hat die Seele keinen Raum mehr. Was aber geschieht, wenn wir aufhören von unserer Seele zu sprechen? Was geschieht, wenn wir mit dem Wort auch das vergessen, was es benennt?
Johanna Haberer versucht, das Wort „Seele“ wieder freizulegen: Wo kommt es in unserer Alltagssprache noch vor? („Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“.) Wo kommt es in handwerklichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen vor? (Der Seiler bezeichnet den inneren Strang eines Taues als „Seele“, die Medizin nutzt das Wort für die Achse, um die sich die Spirale der DNA windet).
Diese Beobachtungen verbindet Johanna Haberer mit philosophischen und theologischen Überlieferungen: Für Aristoteles ist die Seele das, was selber keine Form oder Struktur hat, dem Leben aber Struktur und dem Lebewesen Form gibt. In der Theologie ist „Seele“ das, was einem Menschen Lebenskraft und Lebensfreude verleiht und erhält.
Und wie ein Seiler aus verschiedenen Strängen ein Tau dreht, so flicht Johanna Haberer ihr Material zu einem haltbaren Gedankenfaden:
»Die Seele meint also das unsichtbare Unbekannte, ohne das alles Lebendige nichts ist. Meint das undefinierbare Etwas, das aus Teilen ein lebendiges Ganzes macht.«
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Ein „undefinierbares Etwas“? Gewöhnlich klingt die Wendung abwertend nach einem ungeordneten Durcheinander. Johanna Haberer gebraucht die Formulierung aber durchaus positiv für das, was sich der Definition, der Festlegung entzieht. Die Seele lässt sich mit den Algorithmen der Künstlichen Intelligenz nicht erfassen, von Informatikern nicht vermessen, von Netzkonzernen nicht ausbeuten. Und genau aus diesem Grund brauchen wir eine neue Aufmerksamkeit auf unser seelisches Befinden:
»Das Versprechen der Netzkonzerne, potentiell die Kommunikation zwischen allen Individuen dieses Planeten zu ermöglichen, verschleiert, dass alles, was zwischen den Menschen (mithilfe von Maschinen) ausgetauscht wird, gleichzeitig in zentralen Verarbeitungssystemen protokolliert und ausgewertet wird.
Hier übernehmen technische Systeme die Macht über ihre Nutzer und verwenden die Daten, um Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren.
Ziel ist die „unmittelbare Beherrschung des Menschen und des Gesamtsystems aus Mensch, Gesellschaft und Technologie“.
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Das weitere Ziel ist eine Art Ausweiden des menschlichen Nutzers und nützlichen Menschen und seiner „Seele“. Denn die digitale Technik macht es möglich, die inneren Zustände von Menschen zu erfassen und womöglich zu navigieren. Schon jetzt erfassen soziale Netzwerke die Wünsche und Träume ihrer User und prognostizieren deren Handlungen – insbesondere im Hinblick auf künftigen Konsum.«
Die Seele verleiht uns Menschen Einzigartigkeit und Würde. Unserer Seele verdanken wir den Élan vital, diese funkelnde Lebensenergie. Und durch sie erschließt sich uns die spirituelle Tiefendimension unseres Lebens. Gib deiner Seele Raum zum Atmen! Schließ sie nicht ein in die Echokammern der sozialen Netzwerke. Öffne sie für die Begegnung mit Gott und den Mitmenschen.
Es liest sich schnell, das Buch von Johanna Haberer: nur 152 Seiten umfasst dieser fesselnd geschriebene Essay. Es liest sich leicht, ihr Buch über die Seele: Fachsprache so weit wie nötig, metaphorische und poetische Sprache so weit wie möglich. (Die vom Thema her naheliegende Versuchung, ins Blumige abzudriften, vermeidet Johanna Haberer gekonnt).
Und es liest sich auch beim zweiten oder dritten Lesen noch anregend und aufschlussreich. Mir hat sich zum Beispiel erst beim dritten Lesen erschlossen, wie genial das Bild ist, mit dem Johanna Haberer ihren Essay beginnt und mit dem sie die Seele als den großen Netzwerker unseres Lebens vorstellt. Was für ein Bild das ist? Das wird nicht „gespoilert“ – ein bißchen Entdeckerfreude muss bleiben, wenn es um die Seele geht!
Johanna Haberer: Die Seele – Versuch einer Reanimation
Claudius Verlag, München 2021 – 152 Seiten
ISBN 978-3-532-6286-4
P.S. Johanna Haberer ist eine der Referentinnen bei unserem Seminartag „Ethik und Künstliche Intelligenz“ am 13. Mai in Helsinki.
Hans-Christian Beutel, Kontakt: hans-christian.beutel@evl.fi