Im Sommer 1521 schreibt Martin Luther von der Wartburg aus an seinen Freund Georg Spalatin: „Ich lerne Hebräisch und Griechisch und schreibe ununterbrochen.“
Wie jetzt?! Der Mann ist Professor für Bibelauslegung! Klar kann der Hebräisch und Griechisch! Und beides kann er sehr gut! Dennoch: in der erzwungenen Ruhe auf der Wartburg fängt Martin Luther noch einmal an, sich mit den biblischen Sprachen zu beschäftigen. Er lernt tatsächlich noch einmal neu, aus diesen Sprachen zu übersetzen.
Bisher hatte er für Studenten übersetzt. Für seine Vorlesungen hatte er biblische Texte „verdeutscht“ und mit weiten Zeilenabständen drucken lassen, damit die Hörer ihre Notizen zwischen die Zeilen schreiben konnten. Nun beginnt Martin Luther für die Gemeinde im Gottesdienst zu übersetzen. Vor allem bei der Arbeit an seiner Postille – einer Sammlung von Musterpredigten – wird ihm klar, dass auf der Kanzel eine andere Übersetzungskunst notwendig ist als auf dem Katheder.
Dabei wird Martin Luther von einem Buch, das gerade neu auf dem Büchermarkt erschienen ist, besonders in den Bann gezogen: 1519 hatte der große humanistische Gelehrte Erasmus von Rotterdam eine sorgfältige und gut kommentierte Neuausgabe des griechischen Neuen Testaments herausgebracht. Wie Luther so lag auch Erasmus eine Reform der Kirche am Herzen. Wie Luther so ging auch Erasmus davon aus, dass diese Reform aus einem neuen Hören auf Gottes Wort heraus geschehen müsse. Deshalb: „Ad fontes“ – „Zurück zu den Quellen“!
In unglaublicher Fleißarbeit hatte Erasmus einen altphilologischen Edelstein geschliffen: eine verlässliche griechische Ausgabe als Voraussetzung für eine gediegene deutsche Übersetzung des Neuen Testaments. „Wenn doch der Bauer mit der Hand am Pflug etwas davon vor sich hin sänge, der Weber etwas mit seinem Schiffchen im Takt vor sich hinsummte und der Wanderer mit Erzählungen dieser Art seinen Weg verkürzte!“, so schwärmt Erasmus voller Hoffnung! Martin Luther ist davon inspiriert, elektrisiert (wenn man das im 16. Jahrhundert schon so sagen kann).
Im Sommer 1521 verbraucht Martin Luther viel Tinte. Neben all den Briefen und theologischen Aufsätzen, die er schreibt, lernt und probiert er neu zu übersetzen. Wie muss das denn klingen, damit der Bauer etwas davon vor sich hin singt, während er hinterm Pflug einher stapft? Welches Versmaß stimmt zum Takt, in dem der Weber vor sich hinsummt? Wie lässt sich eine Erzählung so einprägsam formulieren, dass sie dem Wander auf dem Weg durch den Kopf geht?
Luther übt, probiert, sucht nach Vorbildern. Deutsche Übersetzungen gab es schon – aber gut waren die nicht. Zu hölzern, zu trocken – da sprang nichts über, die waren nicht inspirierend. Und Seite um Seite füllt er mit Versuchen, „lernt Hebräisch und Griechisch und schreibt ununterbrochen“. Luther erarbeitet sich unermüdlich und voller Leidenschaft die Fähigkeiten, die er später für seine großartige Übersetzung des Neuen Testamentes brauchen wird.
Noch hat er dieses Ziel nicht vor Augen. Noch geht es ihm um die Übersetzung einzelner Predigttexte für die Postille. Aber eines merkt er jetzt schon: er schreibt damit gegen seine Depressionen an – er schreibt sich von ihnen frei. Er bekämpft den Teufel mit Tinte. (In späteren Zeiten wird daraus die Legende, er habe nach dem Teufel mit dem Tintenfass geworfen – ein angehender Tourismusfachmann des 17. Jahrhunderts zeigt dann ergriffenen Pilgern einen Tintenklecks an der Wand der Lutherstube).
Und genau genommen lernt Luther in dieser Zeit nicht nur Hebräisch und Griechisch, sondern auch Deutsch. Wieviel Weltwissen hat so ein Mönch und Theologieprofessor? Wie redet ein Mann und eingefleischter Junggeselle vom Windelwechseln? Und davon muss er doch reden, wenn er die Weihnachtsgeschichte übersetzt! Martin Luther lernt Deutsch von der Hausfrau in der Küche, indem er sie fragt nach Küchengeräten und Kräutern. Er lernt Deutsch von den Kindern auf dem Hof, indem er sie nach ihren Spielen fragt. Er lernt Deutsch vom Händler auf dem Markt, der sich am besten auskennt mit Maßen und Münzen. Für Martin Luther sind die einfachen Menschen Sprachexperten. Später wird er das einmal so formulieren:
„Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden soll, sondern man muss die Mutter im Haus, die Kinder auf der Gasse, den einfachen Mann auf dem Markt danach fragen und denselben auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen, so verstehen sie es und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“
Ja, Martin Luther lernt das Übersetzen neu – und das wird ihm (und uns!) zugute kommen, wenn er dann später tatsächlich daran gehen wird, das ganze Neue Testament zu verdeutschen: „Die Zeit seiner Isolation auf der Wartburg, wo er auf seine Bibliothek und weitestgehend auf den Rat seiner Freunde verzichten musste, versetzte ihn in die Lage, sich mit seltener Direktheit unmittelbar auf das Neue Testament einzulassen. Das Ergebnis war eine zutiefst persönliche Übersetzung, die wirkt, als wäre sie in einem Atemzug geschrieben worden.“ (Lyndal Roper)
Hans-Christian Beutel