Ethik, Klartext 2025-03-06

Wahrheit schafft Gemeinsamkeit

von DEiF

Ein langzeitarbeitsloser ehemaliger Schulkamerad bat mich aus Deutschland um mehr Informationen über ein Bürgergeld, das allen Finnen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft als allgemeines Grundeinkommen gezahlt werde. Als ich ihm daraufhin mitteilte, dass es so etwas hier in Finnland nicht gibt und fragte, woher er solche Fehlinformation hätte, antwortete er, diese von den Internetseiten bei Greenpeace bezogen zu haben, wo man die Angaben damit begründete, dass die finnische Sprache so schwierig sei und man sich daher gezwungen sehe solche ‚Informationen’ selbst zu produzieren. Anstatt jemanden zu fragen, die die finnischen Verhältnisse kennt und des Deutschen mächtig ist, sieht man sich gezwungen, ‚Wahrheit’ selber zu erfinden und als ‚Tatsache’ zu verbreiten. Der Begriff „Fakt“ bzw. „Faktum“, der Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit spiegelt, ist vom lateinischen fieri gebildet und bedeutet perfektivisch etwas „Gemachtes“; könnte darum Selbstgemachtes als faktische Wahrheit ausgeben werden?

Da also mein arbeitsloser Ehemaliger sein Einkommen aufbessern wollte, fiel er auf eine Desinformation herein, die eine Organisation zu eigenen Zwecken verbreitet hatte. Dabei fragt man sich nach den Kriterien von Wahrheit. Der Theologe und Philosoph Romano Guardini beschreibt allgemeinen Zerfall: — Das Prinzip des Pluralismus — wonach es keine gültige, für alle verpflichtende Wahrheit gibt, jeder denkt, was ihm richtig erscheint, er dafür das Recht des freien Wortes und der freien Bewegung verlangt, ja gar keine feste Ansicht hat und auch dafür freie Bewegung verlangt usw. — dringt so weit vor, daß es überhaupt keine allgemein anerkannten Werte, Maßstäbe usw. gibt, sondern das Chaos herrscht. (1985, S. 50). Wenn Wahrheit mit den Tatsachen übereinstimmt, dann wird sie als ‘wahr’ angesehen und schafft Gemeinsamkeit, da diese von jedermann überprüft werden kann, wie beispielsweise die Außentemperatur. Allerdings gibt es auch eine existenzielle Dimension der Wahrheit, die deren individuelle Bedeutsamkeit berücksichtigt, wie beispielsweise die Windgeschwindigkeit, die das Empfinden von Frosttemperaturen erheblich beeinträchtigen kann, oder der Aufguss in der Sauna, der die Luftfeuchtigkeit erhöht und damit das Empfinden der Wärme steigert.

Das deutsche Wort „wahr“ trägt etwas Achtbares, Glaubhaftes, Vertrauenswürdiges in sich, so dass Goethe dichten kann: — Märchen, noch so wunderbar, Dichterkünste machen‘s wahr, womit auch demagogische Desinformation, die heutzutage vielfach genutzt wird, für „wahr“ verkauft werden kann, wenn sie nur glaubhaft dargestellt und autoritativ geplustert wird. Allerdings steckt im deutschen Begriff „wa(h)r“ auch die präteritale Wurzel von „sein“, was sowohl die aposteriorische Dimension als auch die Koinzidenz mit dem Wesen des Sachverhalts in die Wahrheitserkenntnis bringt. Der finnische Wahrheitsbegriff „totuus“ ist von dem Wort „tosi“ (wirklich, sicher, echt) gebildet, zu dessen Wortfeld auch als Zeugenaussage „todistaa“ sowie das Dokument als Zertifikat (todistus) gehören. Damit ist Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gefordert, so dass man mit dem finnischen Sprichwort sagen kann: — Wahrheit verbrennt nicht einmal im Feuer (Totuus ei pala tulessakaan), und geänderte Wahrheit (muuunnettu totuus) ein Synonym für „Lüge“ ist.

Dieser Wahrheitsbegriff trägt zu dem Vertrauen mit bei, das Gemeinsamkeit schafft und Finnland immer wieder zum glücklichsten Volk der Welt macht.

Wahrheit als Abbild der Wirklichkeit ist immer auch schonungslos, da wirkliche Fakten etwas Brutales an sich haben, und die Flucht davor zur Vereinsamung führen kann, wie Mika Waltari betont: — Die Wahrheit ist ein schneidendes Messer, die Wahrheit ist eine unheilbare Wunde im Menschen, die Wahrheit ist eine Lauge, die bitter das Herz zerfrißt. Darum flüchtet sich der Mann in den Tagen seiner Jugend und seiner Kraft vor der Wahrheit in die Freudenhäuser und verblendet seine Augen mit Arbeit und allerlei Taten, mit Reisen und Vergnügungen, mit Macht und Bauten. Aber es kommt der Tag, da ihn die Wahrheit wie ein Speer durchbohrt, und dann findet er keine Freude mehr an seinen Gedanken, noch an seiner Hände Schaffen, sondern fühlt sich einsam, einsam inmitten der Menschen, und die Götter bringen ihm keine Hilfe in seiner Einsamkeit. Solche Vereinsamung auf der Flucht vor der Wahrheit kann auch eine ganze Nation isolieren, deren wahres Gesicht im Beginn eines brutalen und kriminellen Angriffskrieges hinter einer bis dato präsentierten Maske zum Vorschein gekommen ist, wie Präsident Niinistö seinem russischen Kollegen mitteilte.

Die Suche nach Wahrheitskriterien hat immer wieder zur Bibel geführt, in der die Frage des wohl berühmtesten Skeptikers überliefert ist: — Was ist Wahrheit? (Johannes 18,38) Leider hat er eine Antwort nicht abgewartet; aber zuvor hatte Jesus gesagt: — Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme (18,37).

— Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (8,32). Diesem Wahrheitsbegriff des Johannesevangeliums sinnt das im Geist des darin besonders dargestellten Jüngers Philippus geschriebene, nur als koptische Übersetzung erst 1945 in Nag Hammadi entdeckte Philippus–Evangelium nach: — Die Wahrheit kam nicht nackt in die Welt. Vielmehr ist sie gekommen in Symbolen und Bildern. Sie (die Welt) kann sie nicht anders empfangen. […] Durch das Abbild müssen sie eingehen in die Wahrheit, welches die Wiederherstellung ist! (# 67a/c). Symbole und Bilder dienen als Mittler der Wahrheit, als deren Einkleidung, denn die nackte Wahrheit ist immer brutal. Wahrheit ist der Weg zur Regeneration, zur Wiederherstellung des Menschen zum Bild, demnach er erschaffen ist. Darum befiehlt der Apostel Paulus, die Wahrheit vor Gott zu erwägen (2. Korinther 4,2) und diese in der Liebe zu suchen (Epheser 4,15).

Wahrheit kleidet sich also in Symbole, die tiefe Ausdrücke der menschlichen Natur und Repräsentationen der Wirklichkeit sind: Geist und Natur treffen zusammen, jener wird gegenständlich fassbar. Alle Kommunikation der Menschen basiert weithin auf Zeichen in Form gesprochener oder geschriebener Worte, Bilder oder Gesten. Symbole als kollektive Archetypen entziehen sich immer einer erschöpfenden Ausdeutung und vermitteln oftmals nur eine Ahnung von der darin enthaltenen Wahrheit. Intuitive Weisheit erfasst und vermittelt innere Bedeutsamkeit der Symbole, die sich aber niemals vollends in Worte fassen lässt. Die Sprache der Symbole ist universal, d. h. nicht an eine bestimmte Zeit, Sprachform oder Kultur gebunden, auch nicht individuell beschränkt. Darum kann ein Symbol Verbindung über Sprachbarrieren hinweg schaffen. Wir sangen ja beim Gottesdienst zum Neujahrsempfang aus EG+ 34: — Alle sprechen eine Sprache, wenn ein Mensch den andern liebt.

Mit der Vielschichtigkeit von Zeichen und Aussage haben wir es in der Kirche immer bei den Sakramenten zu tun, in, mit und unter denen das Heil mitgeteilt wird, und zwar wird das überlegene Wort sichtbar im alltäglichen Allerweltselement: Durch eine Hand voll Taufwasser, durch einem Stücklein Brot und einem Schluck Wein beim Abendmahl wird Teilhabe am Heiligen vermittelt. Wahrhaftiges, glaubhaftes und faktisches Heil wird im Glauben angenommen und schafft Glauben. Darin verbinden sich die diversen Dimensionen von Wahrheit durch die Mittlerfunktion des Symbols in realer Weise zur Verbindlichkeit: Im Sakrament macht Gott das Heil verbindlich. — Dann kommt auch etwas zu seinem Recht, was zum Innersten unseres Menschenwesens gehört: daß nämlich das Sprechen nur eine Seite von etwas Umfassenderem ist, dessen andere Seite Schweigen heißt. Der Mensch bedarf der Wahrheit; er lebt von ihr, wie er von Speise und Trank lebt. Ihrer wird er mächtig, indem er sie im Wort mitteilbar macht — aber auch, indem er sie schweigend durchfühlt. Erst beides zusammen ist jenes Ganze, das wir »Erkenntnis« nennen. Und eins trägt das andere: die schweigende Innewerdung klärt sich in der Offenheit des Wortes; dieses aber versichert sich in der inneren Stille immer wieder seines Sinnes. Das wird in bildlichen Aussagen besonders deutlich; denn der Begriff sucht das Gemeinte sagend zu erschöpfen, das Bild hingegen sagt wohl, weist aber zugleich auf das Unsagbare hin und trägt so das Schweigen in das Sprechen selbst hinein. (Guardini 1999, Seite 70)

Quellen:

Fontana, David: The Secret Language of Symbols. A Visual Key to Symbols and their Meanings, 1994.
Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. Ausgabe letzter Hand, 1827. Greenpeace: https://www.greenpeace-magazin.de/nachrichtenarchiv/geld-fuer-alle (eingesehen 25.8.2015, Inhalt gelöscht, Überschrift: Finnland führt Grundeinkommen ein).
Guardini, Romano: Theologische Briefe an einen Freund: Einsichten an der Grenze des Lebens, 1985.
Guardini, Romano: Die Annahme seiner selbst: Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, 1999.
Schenke, Hans–Martin (Hg.): Das Philippus–Evangelium (Nag-Hammadi-Codex Ii,3), neu herausgegeben, übersetzt und erklärt, 1997.
Waltari, Mika: Sinuhe der Ägypter. Übersetzt von Charlotte Lilius, 1976.

Wahrheit schafft Gemeinsamkeit

Dieser Artikel von Propst Hans–Christian Daniel erschien in deutscher Sprache im Gemeindebrief ‚Deutsch–Evangelisch in Finnland‘ zur Passion und Ostern 2025.

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